- 97 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Der Rahmen, den das »Kleinzack«-Lied bildet, ist nicht nur formale Abrundung, sondern erhält in Felsensteins Inszenierung eine aus der Konzeption gewonnene wesentliche Bedeutung. Felsenstein hat mit dem »Klein-Zack«-Lied im I. Akt szenisch das Motiv des deformierten Körpers und seltsamen Bewegungsduktus’ Pitichinaccios verknüpft. Den charakteristischen Gang Pitichinaccios deutet Hoffmann an, wenn er im I. Akt im »Klein-Zack«-Lied das »klick-klack«-Geräusch der Beine und den merkwürdigen Gang Klein-Zacks besingt. Diese Antizipation Pitichinaccios verknüpft sinnfällig Hoffmanns Ausgangspunkt und Endpunkt der Auseinandersetzung mit seiner Liebe zu Stella, ist doch das »Klein-Zack«-Lied inspiriert durch einen Säufer, den Hoffmann auf dem Weg vom Theater im Rinnstein hat liegen sehen. Und dort, im Rinnstein, möchte er liegen, wenn ihn »der Traum von Glück und Liebe.narrt«.101
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Klavierauszug: Dialog vor Nr. 5
Dass er in diesem bizarren und vor allem durch Hans Nockers Diktion spielerisch-aggressivem Lied des Klein-Zack das Angesicht Stellas visualisiert, legt eine Überlegung nahe, die sicher auch Felsenstein dazu gebracht hat, Klein-Zack und Pitichinaccio zu assoziieren: Klein-Zack ist eine herzlose kalte Karikatur, geschaffen aus der Bitterkeit über die Verletzungen und Deformationen, die seine unglückliche Liebe zu Stella in Hoffmann bewirkt haben. Pitichinaccio dagegen ist die zynische Emanation einer seelenlosen, bloß materiellen Welt. Die persönliche Betroffenheit und Bitterkeit verletzter Gefühle verwandelt sich in Hoffmanns Frauen-Erzählungen zu einer bitteren Anklage einer Welt ohne Liebe.102
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Die These Jürgen Schläders, dass Felsensteins Hoffmann-Figur einen »sauberen deutschen Helden« zeige und »keinen gefährdeten und labilen Charakter« erscheint mir unverständlich. Felsensteins Sichtweise sei es, die drei Frauen-Erzählungen »als Stadien einer fortschreitenden Bewältigung seelischer Gefährdung durch die moralisch intakte Haltung eines deutschen Helden« zu zeigen. Die ›Hoffmanns‹ der drei Frauen-Akte sind bei Felsenstein lächerlich (studiosus), ignorant (Komponist) und zynisch gegen sich und andere (Giulietta), keinesfalls jedoch »moralisch intakt«. Was ihn rettet, ist seine Kunst, nicht aber sein Heldentum. Wie gezeigt wurde, bezieht der Hoffmann Felsensteins die Bewältigung aus seiner Existenz als Künstler. Schläder wirft dieser Konzeption vor, dass »Hoffmann [. . . ] dem Zuschauer vorgeführt [werde] als klassischer Held mit Idealen« und zum Träger der Heilsbotschaft des klassischen deutschen Dramas würde. »Hoffmann, der die Liebe verflucht, wird den Menschen in seinem literarischen Werk, in seiner Kunst diese Liebe wiedergeben, damit sie daran glauben können.« Schläder scheint die – m. E. dem Stück durchaus angemessene – Hypostasierung des Künstlers nicht zu gefallen. Wenn er in seiner Deutung des Finales jedoch vom genialen Künstler spricht, der, um Künstler zu sein, vereinsamt, weil er die normalen menschlichen Bindungen an seine Mitmenschen abbrechen muss, so ist das nur eine Variante der Hypostasierung des Künstlers, nämlich die des labilen, gefährdeten Feingeistes. Warum ›Hoffmanns Erzählung‹ das Verhältnis von Kunst und Leben in diesem eher der décadence entlehnten Künstler-Topos reflektiere, wird von Schläder nicht weiter begründet. Wohl aber gibt er einen Grund für Felsensteins vermeintliche Verzerrung des Offenbachschen Stückes an: »Walter Felsenstein benutzte eine französische Oper, um sie systemgerecht für die Belange der ehemaligen DDR und ihres Publikums gesellschaftspolitisch zurechtzubiegen.« Was der von Felsenstein entworfene Prototyp des romantischen Künstlers mit der DDR zu tun hat, bleibt im Dunkeln. In Hoffmann einen (proletarischen) Helden des Sozialistischen Realismus zu entdecken, benötigt schon eine Sichtweise, die sich dem Systemvergleich und nicht dem Gegenstand – Felsensteins Operninszenierung – verpflichtet sieht. Vgl. Schläder, Jürgen: Wovon erzählen Hoffmanns Erzählungen? In: Weber, Horst (Hrsg.), Oper und Werktreue: Fünf Vorträge, Stuttgart, Weimar: Metzler 1994

Dabei geht der Künstler Hoffmann weit über den Menschen hinaus. Während dieser noch nach dem Giulietta-Akt der Liebe abschwören will, hat jener in seinen Kunstwerken schon die Lebensnotwendigkeit der Liebe erfasst. Darin liegt auch die


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