- 92 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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übergeblendet, auf dem Gondolieri Liebespaare rudern. Mit diesem Bild setzt die erste Gesangsstrophe ein. Felsenstein zeigt nicht Niklaus und Giulietta, die die Barkarole singen, sondern Venedigs Brücken und Kanäle. Eine dramaturgische Begründung dafür, dass die beiden Gegenspieler gemeinsam die Barkarole singen, liegt nicht in einer individuellen Ausdrucksfunktion dieser Musik, denn es ergibt keinen handlungsdramatischen Sinn, dass Niklaus und Giulietta, die beiden Gegenspieler, gemeinsam die Barkarole singen. Dem Bildensemble auf dem Wasser schimmernden Mondlichts, der Gondoliere und sich vergnügender maskierter Liebespaare reiht sich die Barkarole als »Couleur locale« ein. Der auf diese Art synthetisierte Topos Venedig97
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vgl. dazu Didion, Robert: A la recherche des Contes perdus, in Brandstetter S. 131ff. Didion spricht vom Topos Venedig, den die Barkarole erheblich steigere. Dabei bezieht er sich jedoch auf die Regieanweisung, nach der der IV. Akt in einem prächtigen szenischen Tableau, nämlich der Festgesellschaft Giuliettas beginnt. Seine Feststellung, dass der Topos Venedig dadurch evoziert wird, dass sich Atmosphäre, dramatische Situation und Spielort mit der Musik verbinden, trifft durchaus auch auf Felsensteins Beginn des Giulietta-Aktes zu. Zum Topos Venedig und der Barkarole vgl. auch Salmen, Walter: Venedig und die Barkarole in Oper und Operette, in: Becker, Heinz (Hrsg.): Die »Couleur locale« in der Oper des 19. Jahrhunderts, Bustav Bosse-Verlag, Regensburg, 1976
ruft Bilder von der Leichtigkeit des Daseins, von sinnlich-morbidem Genuss und der Vergänglichkeit der Welt auf.

Genau dies sucht der Hoffmann des Giulietta-Aktes. Nach den Liebesenttäuschungen mit Olympia und Antonia hat er der Liebe abgeschworen und sinnt auf puren Genuss und Taumel (Hoffmann: »Die hohe Liebe ist vorbei, doch soll es deshalb keine schönen Nächte geben.«) Hoffmanns Lied mit Chor (Felsenstein, Nr. 30) markiert seine neue Lebenseinstellung. Felsenstein inszeniert eine bacchantische Szene (die mit unseren – an so ziemlich alles auf der Bühne gewöhnten Augen betrachtet – freilich allzu brav erscheint), in der Hoffmann durch Reihen sich lasziv hingebender Damen geht, während im ganzen Saal ausgelassen feiernde Paare ihm begeistert zuprosten. Die letzte Strophe des Trinkliedes (Felsenstein, Nr. 30a) singt Giulietta, den Abschluss bildet eine kurze Duettstelle zwischen Giulietta und Hoffmann, während Giuliettas aktueller Verehrer, Peter Schlemihl, eifersüchtig aufspringt.

In Dapertuttos Spiegelarie (Felsenstein, Nr. 31), in der er die Macht seines Diamanten, mit der er Giulietta beherrscht, beschwört, wird der Gegenspieler Hoffmanns etabliert. Betrachtet man allein die Musik, so hat Egon Voss gewiss Recht, wenn er feststellt:

»[...] dieses Stück, das bedingungslos auf seiner üppigen Klangsinnlichkeit und ungetrübten Schönheit besteht und sich um die Bedeutung des zugrundeliegenden Textes nicht im geringsten kümmert, degradiert den Text zur bloßen Äußerlichkeit, zum aufführungspraktischen Akzidenz gleichsam.«98

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vgl. Voss, Egon: »L’alouette ou la femme . . . L’une y laisse la vie et l’autre y perd son âme«. Zur Bedeutung von Dapertuttos es-Moll-Chanson in Brandstetter S. 317ff. Im Anschluss des Vergleiches der beiden Chansons Dapertuttos in d-Moll und ges-Moll diskutiert Egon Voss die berühmte Spiegel-Arie, die seit ca. 1907 das ges-Moll-Chanson ersetzt. Auch wenn der Beurteilung Voss zuzustimmen ist, dass das ges-Moll-Chanson bei weitem konturenreicher »einem Selbstporträt nahekommt«, trifft die Ansicht, dass die deutsche Übersetzung, »die den Text statt auf Giulietta und die Frauen auf Hoffmann bezieht, das Motiv des Diamanten, dem die Frauen verfallen, . . . « ganz ausscheiden lässt, die Übersetzung Felsensteins und insbesondere seine szenische Verwendung der Spiegelarie nicht.


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