- 90 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Dahlhaus skizzierten mit Reminiszenzen und Antizipationen spielenden Kompositionsweise Offenbachs wohnt der Gedanke, musizierendes Theater zu sein inne, denn musikalische Reminiszenzen und Antizipationen beziehen sich eben auf die Stückhandlung, erklingende Musik wird erst durch ihre Verflochtenheit mit der Handlung Antizipation oder Reminiszenz. Das wird nicht zuletzt daran deutlich, welchen letztendlich dramatischen Sinn Dahlhaus den scheinbar bloß kompositionstechnischen Momenten zuschreibt, nämlich einen, der im Kontext der Ausgangsituation Hoffmanns wirklich evident wird.

Nicht nur daran, welche Musiknummern in Felsensteins Verfilmung erklingen, wird die Handlung dieses musizierenden Theaters deutlich. Es wirft auch ein interessantes Licht auf die Musikdramaturgie dieses Aktes, wenn man überlegt, welche Situationen der Handlung sich Musiknummern anböten, die gar nicht komponiert sind. Es wird sofort augenscheinlich, wie Musiknummern bei gleichem Handlungsgerüst die Handlung verändern würden, weil Musikdramaturgie und Handlung verflochten sind. Nachdem Hoffmann erfährt, dass Antonia sterben muss, wenn sie singt, schließt sich nicht etwa eine Arie an, in der er sich für eine bürgerliche Existenz entscheidet. Seine Entscheidung teilt er Antonia dialogisch mit, sie ihren vermeintlichen Verzicht auf ihre Karriere ebenso; es gibt keine – beispielsweise in einer italienischen Oper die Peripetie einer tragischen Liebesgeschichte markierende – große Duettszene mit ausbleibender Cabaletta, deren Fehlen auf die Entzweiung der beiden verweisen würde. Der Konflikt zwischen Hoffmann und Antonia hat keine Musik.

Nur der Konflikt zwischen dem Gesangsverbot und Antonias ehrgeizigen künstlerischen Ambitionen, ihrem grenzenlosen Streben nach Ruhm und Erfolg, findet seinen musikalischen Ausdruck und zwar im Terzett (Felsenstein, Nr. 27) vor dem Akt-Finale. Dort drückt sich eigentlich eine Arien-Situation Antonias aus, ihre Mutter und Mirakel sind Inkarnationen ihrer Träume und Wünsche,93

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vgl. dazu Döhring, Sieghart in: ebd., S. 299f.: »So wird in Miracles Ansprache die Künstlerexistenz als lockende Gegenwelt zum bürgerlichen Alltag beschworen, die Musik als Sphäre rauschhafter Selbstverwirklichung, die Macht über die Seelen verleiht. Die Sirenengesänge der Primadonna sind das klangliche Symbol für die Triebsphäre der Musik, der Antonia von Anfang an verfallen ist und derem tödlichen Zauber sie schließlich erliegt.«
die sie mit ihrer Künstlerkarriere verbindet. Eingeleitet wird das Terzett durch einen melodramatisch unterlegten Dialog Antonias mit Mirakel, in dem sie noch standhaft zu ihrer Liebe zu Hoffmann hält. Erst als ihre Verzweiflung so groß wird, dass sie mit den Worten »Wer rettet mich vor dem Dämon?« Hilfe bei ihrer verstorbenen Mutter sucht, setzt das Terzett ein. Die Musik erfasst wirklich erst den Umschlag des Konfliktes, in dem ihre Sehnsucht nach einer Künstlerexistenz dadurch, dass die Mutter ihr die Stimme gab, in den Augen Antonias rechtfertigt wird. Selbstverständlich beachtet Felsenstein genau, dass Antonia erst mit dem dritten Rufen ihrer Mutter einsetzt. Dadurch wird sinnfällig, dass es sich bei dem Terzett um innerpsychische Vorgänge Antonias handelt.94
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So erscheint S. Döhrings Interpretation, mit der Anrufung der Mutter würde »unbewußt eine noch tiefere, triebhaftere Schicht ihrer Psyche [. . . ] im Porträt der Mutter »doppelgängerhaft« materialisiert«, plausibel. Döhring, ebd. 299
Dies verdeutlichen auch die schnellen Schnitte zwischen dem Geige spielenden Mirakel und Antonia, wobei Mirakels Gesicht in Nahaufnahme mit unbestimmtem Hintergrund zu sehen ist. Die Schnitttechnik

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