- 9 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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zwischen dem, was in der Partitur steht und jenem, was als Inszenierung auf die Bühne kommt: das sub specie Musik ästhetische Notwendige stellt sich absichtsvoll und wie von alleine quer zur im Grunde unästhetischen Norm eines Sozialistischen Realismus.

Das führt zu einer Einsicht, von welcher der wissenschaftliche Diskurs lebt: ein gleicher Gegenstand, fokussiert aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln, diskutiert nach Massgabe unterschiedlicher erkenntnisleitender Interessen und aufgespannt auf sehr verschiedenen analytisch-methodischen Reissbrettern, tritt janusköpfig dann in Erscheinung. Soll heissen: scheinbar widersprechende Antworten verweisen stets auf die abweichenden Horizonte individueller Fragestellungen oder, um mit Hans Magnus Enzensberger zu sprechen: »Wer an die hermeneutische Pforte klopft, dem wird aufgetan«.

Felsenstein entwickelt seine Begriffe aus einer Bestimmung der ästhetischen Gesetze des Musiktheaters, deren nützliche Anwendbarkeit in zwei Arbeitsbereichen besteht, demjenigen der Beschäftigung mit dem in der Partitur notierten Werk und dem des Prozesses der szenischen Realisierung. Im ersten Bereich regiert bei Felsenstein unumstößlich die Forderung nach genauestem Werkstudium, deren einzige objektive Gegebenheit die Partitur ist. Der zweite Bereich wird neben der Verpflichtung auf die Ergebnisse der Werkanalyse grundsätzlich durch die Auffassung von jeglichem Theater als Tatsächlichkeit bestimmt: der Sänger lebt, äußert sich, Musik erklingt wirklich und Zuschauer haben reale Empfindungen. Der zentrale Begriff beider Bereiche ist die »Handlung«. Die Kernaussage, die sowohl Felsensteins theoretische Einlassungen wie auch seine praktische Arbeit leitete, »Theater entsteht nicht durch Stimmungen, sondern durch Absichten« (Felsenstein), führte dazu, dass er die »musikalische Handlung« (Felsenstein) als »Grundgesetz auch des Musiktheaters«18

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Vgl. Friedrich, Götz: Die Sehnsucht nach szenischem Musizieren, in: Opernwelt 12/1975
fixierte und ihr in der Praxis einen entsprechenden Stellenwert einräumte.

Felsenstein betont immer wieder die Realität der Vorgänge und Äußerungen. Theatralische19

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Die pejorative Konnotation, die in der Vokabel des ›Theatralischen‹ oft mitschwingt, ist hier wie in der ganzen Arbeit nicht gemeint. Das Wort wird allein deskriptiv in seiner Bedeutung als ›dem Theater zugehörig‹ verwandt.
Vorgänge, die als solche ästhetische sind, erlangen ihre Kraft durch ihre empirische Realität; die Gesetze der ästhetischen Wirklichkeit im Theater sind der empirischen Wirklichkeit entnommen. Felsenstein untersucht, wie Gesang als besonderer Vorgang der empirischen Realität entnommen, in die ästhetische Wirklichkeit des Theaters transformiert werden bzw. wie Musik diese gegenständliche Kunstwirklichkeit konstituieren kann. Seine Gedanken lassen sich immer auf folgende Grundfragen zurückführen: Warum erklingt Musik auf dem Theater? Was ›bedeuten‹ musikalische Äußerungen? Diese Fragestellungen bestimmen seine praktischen szenischen Lösungen. Wie erreicht man musikalische Äußerungen? Wie gelingt es, einen Inhalt erklingen zu lassen? Seine theoretischen Überlegungen sind dabei immer vom praktischen Interesse der Realisation auf der Bühne geleitet. Auch abstrakte ästhetische Erörterungen bezog er auf ihren Nutzen für das Theater.


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