- 85 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Die eingeladene Festgesellschaft wird so zum Sittengemälde der Konkurrenzgesellschaft. Daraus ergibt sich stimmig Felsensteins drastische Zeichnung des Chores auf dem Fest Spalanzanis.

»Das darf alles nicht komisch sein, sondern eher grausam, bitter ernst. Jeder hat Angst vor dem Nebenmann, will ihm gefallen und zum Munde reden [...].«76

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ebd.

Die Kameraeinstellungen während der Arie der Olympia wechseln zwischen dem von Spalanzani und seinem Diener umsorgten Vorführobjekt Olympia, dem verliebten Hoffmann und dem Publikum, einer Meute blasierter und deformierter Fratzen, die sich einander und Olympia freundlichst belauern. Der technische, spieldosenhafte Charakter der Arie erhält eine entscheidend die Festgesellschaft charakterisierende Bedeutung. Dass die Musik gerade keinen lebendigen Ausdruck vermittelt, sondern unmenschlich und mechanisch voranschreitet, erlaubt einen Einblick in das Innenleben dieser Gesellschaft.77

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Die Maschine als Metapher für die fremdbestimmte bürgerliche Gesellschaft ist in der Romantik geradezu ein Topos. Stellvertretend sei nur eine Passage aus August Wilhelm Schlegels »Kritik an der Aufklärung« angeführt: »Wir wissen zu gut, daß die meisten Menschen über die durch die bürgerliche Ordnung zum Lernen bestimmte Periode einmal hinaus sich so beschränkt fixieren, daß sie, weit entfernt ein universelles Interesse zu haben, [. . . ] vielmehr nur wie Uhren für die täglichen Verrichtungen maschinenmäßig aufgewunden werden.« Schlegel, August Wilhelm: Kritik an der Aufklärung. Aus: Allgemeine Übersicht des gegenwärtigen Zustandes der deutschen Literatur. In: Kritische Schriften und Briefe, hrsg. von Edgar Lohner. Bd. 3, Kohlhammer, Stuttgart, S. 80
Keine Subjekte, sondern von einer unsichtbaren Macht aufeinander bezogene Geschöpfe gegenseitigen Misstrauens sind zu sehen. Die Musik betont das Leblose, das alle bestimmt, sie wird zum klingenden Bild der menschlichen Beziehungslosigkeit in der bürgerlichen Konkurrenz. Diese Charakterzeichnung macht Felsenstein, seinen Anspruch an Musiktheater erfüllend, ebenso an musikalischen Charakteristika fest. Er spricht über das Chor-Stück, das das Fest einleitet, in einem Probennotat festgehalten, von der »Hypertrophie des Rhythmus«, die die »schauderhaft-ironische«78
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Felsenstein/Herz, S. 289
Szene erst ermögliche. Kein festlicher Chor, sondern ein das Spitze und die Schärfe überpointierender Rhythmus erklingt. Der letzte kurze Ton des Chores wird geradezu zu einem Nadelstich.

Dass Felsensteins Annahme, dass in Hoffmanns Schaffenskrise das Verhältnis von Kunst und Leben reflektiert wird, dem Stück entnommen ist, ist deswegen wesentlich, weil durch eben diese Ausgangssituation Musik begründet ist und weil Musik maßgeblich die Handlung bestimmt. Denn nur in der Vision Hoffmanns wird Stella zur Puppe Olympia und nur diese Puppe kann eine solche Spieldosen-Arie singen. Zu zeigen ist noch, dass diese Visionen künstlerische sind, mit ihnen das Verhältnis von Kunst und Leben in den Blick genommen ist.

Im Bezug des studiosus Hoffmann auf Olympia ist das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft folgendermaßen reflektiert: Der studiosus verteidigt seine Liebe gegen die Vorwürfe Niklaus’, Olympia sei ein seelenloser Automat mit der Erwiderung, ihr holpriger Gang sei »Scheu und Unerfahrenheit des Kindes«. Bezogen darauf, dass sie kein Gespräch führe, entgegnet er: »Eure Schwätzerei ist ihr zu dumm [. . . ] und diese Spießer (würden) ihre Sprache nicht verstehen.« Allein er verstünde sie


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