- 84 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (83)Nächste Seite (85) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Der Olympia-Akt wird jedoch vollends verständlich, wenn man nicht nur die innerpsychische Auseinandersetzung Hoffmanns betrachtet. Den Hauptteil des Aktes nimmt das große Fest ein, das Spalanzani ausrichtet, um die Puppe Olympia, also seine neue physikalische Errungenschaft, der Gesellschaft als seine Tochter zu präsentieren. Die auf diesem Fest zum Besten gegebene Arie der Olympia, Chor und Olympias Lied Nr. 14, im II. Akt als musikalischen Witz einer singenden Spieldose, die man ab und zu aufziehen muss, aufzufassen, wäre jedenfalls keine musiktheatralisch erwähnenswerte Handlung. Betrachtet man die Olympia-Arie im Kontext der ganzen Akt-Handlung, so wird deutlich, warum Felsenstein für diese Arie vom Chor »Gesellschaftskritik« verlangt, eine »böse Satire von dämonischem Ausmaß«.75
75
ebd., S. 289
Außerdem erhält die Musik der Arie Olympias durch diese dem Stück zu entnehmende Forderung eine spezifische Wirkung. Bevor darauf näher eingegangen wird, sei kurz erläutert, inwiefern dieser Olympia-Akt eine »böse Satire« mit gesellschaftskritischem Inhalt ist, also inwiefern hier die Handlung aus einem auf den ersten Blick harmlos erscheinenenden musikalischen Spaß ein klingendes Porträt einer als widerlich gezeichneten Gesellschaft werden lässt und die Musik so Sinn konstituiert.

Felsenstein inszeniert Spalanzani als einen merkwürdigen Forscher, eine skurril überzeichnete Figur mit langem Mantel und toupierten Haaren, der in der Anfangsszene des Aktes die von ihm konstruierte Puppe durchaus wie seine Tochter anschaut, obwohl – wie aus dem Gespräch mit dem studiosus Hoffmann ersichtlich ist – er nicht diesem Wahn verfallen ist. Es ist zu fragen, was er mit dieser Puppe, die er fast fürsorglich behandelt, bezweckt. Dies wird deutlich im Zwiegespräch mit Coppelius, der dafür, dass er die Augen für den Automaten geliefert hat, sein Eigentum an der Puppe beansprucht. Mit einem vermeintlich am nächsten Tag fälligen Wechsel auf einen Bankier, der aber – was Coppelius eben aus Venedig ankommend nicht wissen kann – gerade bankrott ging, zahlt er Coppelius aus. Es geht um das Geschäft, das mit dieser Puppe zu machen ist. Überhaupt sind alle Beziehungen in diesem Akt durch das gegenseitige Ausnutzen für den eigenen Vorteil bestimmt. Coppelius erpresst Spalanzani mit der Drohung, auf dem Fest sein Eigentum an der Puppe öffentlich anzumelden. Wie schon oben geschildert betrügt Spalanzani Coppelius. Cochenille, der Knecht Spalanzanis, wiederum hilft gegen Geld bei der Entführung Olympias, die Coppelius anzettelt, um doch noch in den Besitz Olympias zu gelangen. Selbst Coppelius Vorschlag an Spalanzani, Olympia doch mit dem vor Liebe blinden studiosus Hoffmann zu verheiraten, beabsichtigt, den Erfolg der Veranstaltung Spalanzanis vor der Gesellschaft zu krönen. Diese Welt voller Eigennutz und Vorteil auf Kosten des jeweils anderen lässt sich durchaus als böse Satire auf die bürgerliche Gesellschaft begreifen. Auch die Distanzlosigkeit Spalanzanis zu seinem ›Konkurrenzmittel‹ Olympia – er behandelt sie in Felsensteins Inszenierung während ihrer Gesangsvorführung auf dem Fest wirklich fast wie die eigene Tochter, mitfiebernd, ob sie ›gesellschaftliche Anerkennung‹ bei der Öffentlichkeit erfährt – , ordnet sich in die Satire ein: Ökonomische Interessen schlagen sich in Charaktereigenschaften nieder.


Erste Seite (i) Vorherige Seite (83)Nächste Seite (85) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 84 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch