Der Olympia-Akt wird jedoch vollends verständlich, wenn man nicht nur die
innerpsychische Auseinandersetzung Hoffmanns betrachtet. Den Hauptteil des Aktes
nimmt das große Fest ein, das Spalanzani ausrichtet, um die Puppe Olympia, also
seine neue physikalische Errungenschaft, der Gesellschaft als seine Tochter zu
präsentieren. Die auf diesem Fest zum Besten gegebene Arie der Olympia, Chor
und Olympias Lied Nr. 14, im II. Akt als musikalischen Witz einer singenden
Spieldose, die man ab und zu aufziehen muss, aufzufassen, wäre jedenfalls keine
musiktheatralisch erwähnenswerte Handlung. Betrachtet man die Olympia-Arie im
Kontext der ganzen Akt-Handlung, so wird deutlich, warum Felsenstein für diese Arie
vom Chor »Gesellschaftskritik« verlangt, eine »böse Satire von dämonischem
Ausmaß«.75
Felsenstein inszeniert Spalanzani als einen merkwürdigen Forscher, eine skurril überzeichnete Figur mit langem Mantel und toupierten Haaren, der in der Anfangsszene des Aktes die von ihm konstruierte Puppe durchaus wie seine Tochter anschaut, obwohl – wie aus dem Gespräch mit dem studiosus Hoffmann ersichtlich ist – er nicht diesem Wahn verfallen ist. Es ist zu fragen, was er mit dieser Puppe, die er fast fürsorglich behandelt, bezweckt. Dies wird deutlich im Zwiegespräch mit Coppelius, der dafür, dass er die Augen für den Automaten geliefert hat, sein Eigentum an der Puppe beansprucht. Mit einem vermeintlich am nächsten Tag fälligen Wechsel auf einen Bankier, der aber – was Coppelius eben aus Venedig ankommend nicht wissen kann – gerade bankrott ging, zahlt er Coppelius aus. Es geht um das Geschäft, das mit dieser Puppe zu machen ist. Überhaupt sind alle Beziehungen in diesem Akt durch das gegenseitige Ausnutzen für den eigenen Vorteil bestimmt. Coppelius erpresst Spalanzani mit der Drohung, auf dem Fest sein Eigentum an der Puppe öffentlich anzumelden. Wie schon oben geschildert betrügt Spalanzani Coppelius. Cochenille, der Knecht Spalanzanis, wiederum hilft gegen Geld bei der Entführung Olympias, die Coppelius anzettelt, um doch noch in den Besitz Olympias zu gelangen. Selbst Coppelius Vorschlag an Spalanzani, Olympia doch mit dem vor Liebe blinden studiosus Hoffmann zu verheiraten, beabsichtigt, den Erfolg der Veranstaltung Spalanzanis vor der Gesellschaft zu krönen. Diese Welt voller Eigennutz und Vorteil auf Kosten des jeweils anderen lässt sich durchaus als böse Satire auf die bürgerliche Gesellschaft begreifen. Auch die Distanzlosigkeit Spalanzanis zu seinem ›Konkurrenzmittel‹ Olympia – er behandelt sie in Felsensteins Inszenierung während ihrer Gesangsvorführung auf dem Fest wirklich fast wie die eigene Tochter, mitfiebernd, ob sie ›gesellschaftliche Anerkennung‹ bei der Öffentlichkeit erfährt – , ordnet sich in die Satire ein: Ökonomische Interessen schlagen sich in Charaktereigenschaften nieder.
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