- 75 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Aufbrausen Othellos meinen könnte, taucht in den weiteren Takten viermal auf. Nicht einmal ist ihr eine szenische Aktion konkret zugeordnet. Vielmehr sieht man einen durchgehenden Ausbruch und schreibt wiederum die Musik dem inneren Zustand Othellos zu. Der schauspielerische Gestus in seinem inneren Tempo und Grad der Exaltation, seines Pathos, korrespondiert dagegen eindeutig mit der Musik. Dadurch – und nicht durch konkrete Bebilderung – laufen Musik und Szene aufeinander verweisend als Einheit ab. Diese Korrespondenz von innerem Tempo und Musik beschreibt Felsenstein folgendermaßen:

»Es handelt sich keineswegs darum, die Noten oder den Rhythmus selbst darstellerisch sichtbar zu machen. Wenn der Sänger einmal das innere Tempo erfaßt und sich zu eigen gemacht hat, ergibt sich das Darstellerische von selbst: dann kopiert er nicht die Musik, dann ist er von ihr so erfüllt, daß er sich in Achteln bewegt.«57

57
ebd., S. 106

Zusammenfassend kann man sagen, dass Felsenstein in der Szene zwischen Othello und Jago ein Zwiegespräch inszeniert, dessen Ablauf zwar genau dem musikalischen Verlauf entnommen ist, d. h., dass musikalische Pausen durch szenische Gesten gefüllt werden und der Aufbau der Szene zum großen Ausbruch Othellos führend, wie gezeigt, dem musikalischen Verlauf entnommen ist. Andererseits folgt die Szene der Musik nicht in dem Sinne, dass Beschleunigungen oder drastische dynamische Veränderungen in szenischen Aktionismus übersetzt werden. Vielmehr stellt die Szene die Situation der Personen klar. Innerhalb dieses durch die szenischen Verläufe bestimmten Rahmens konkretisiert die Musik dann innere Zustände, »erweckt und organisiert« (Hegel) Empfindungen.

Auch der Kanzonette (II: Akt, 5. Szene) liegt ein ähnlicher musiktheatralischer Aufbau zugrunde. Die musikalische Ruhe der Kanzonette gibt wiederum das Tempo der Szene vor. In der Kanzonette fingiert Jago das Erlebnis, dass Cassio im Traum von seinem heimlichen Verhältnis zu Desdemona gesprochen habe. Die Erzählung von Cassios vermeintlichem Traum einer Annäherung Desdemonas wird durch keine Aktion Othellos unterbrochen.

Die Passivität, in der Felsenstein den Darsteller des Othello Hans Nocker führt, wird zur zentralen szenischen Handlung, die aufdeckt, wie Jagos ›Gift‹ wirkt: Othello folgt den von Jagos Erzählung evozierten Bildern, die seine Eifersucht anfachen; darüber gewinnt Jago Macht über Othello. Kein szenischer Aktionismus, sondern Passivität wird zur theatralischen Handlung, die Bedeutungen vermittelt. Erst diese szenische Ruhe Othellos lässt die schlichte unbefangene Qualität von Jagos Musik beredt werden. In der Starrheit Othellos wird die Macht Jagos über ihn deutlich. Außerdem folgt die Musik ebenso der Logik der Figuren, ist dramatische Musik im banalen Sinn. Ihre oben beschriebene konzeptionelle Bedeutungen vermittelnde Qualität erhält sie durch die szenische Handlung, die Passivität Othellos. Musik und Szene sind somit kein Nebeneinander, sondern als Einheit nicht getrennt voneinander zu betrachten. Sie konstituieren gemeinsam die spezifische theatralische Bedeutung.

Der szenische Verlauf zwischen Othello und Jago im gesamten II. Akt verdankt sich auch im folgenden Sinn einer Konzeption, die der Musik entnommen und nur


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