- 74 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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langsam, dem Tempo der Musik entsprechend. Die rasante Beschleunigung der Szene erfolgt durch eine szenische Aktion Othellos. Nachdem er vorher saß, springt er auf. Dieser explosiven szenischen Aktion folgt die Tempobeschleunigung in der Musik, der szenische Vorgang löst die Musik aus. Dadurch lässt die Musik die subjektive Empfindung Othellos wiederklingen, die Musik ›gehört‹ Othello.

Es verhält sich jedoch nicht so, dass nun der musikalische Verlauf in Othellos Ausbruch szenisch analog nachempfunden wird. So findet die musikalisch exponierte Stelle acht Takte nach Buchstabe M keine Entsprechung in einer szenischen Aktion. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass der Zuhörer sie der inneren Anspannung Othellos zuschreibt. So erfährt er diese gleichzeitig in seinem eigenen Inneren, das durch die Musik affiziert ist. Eben dadurch, dass die Musik nicht durch einen szenischen Vorgang verdoppelt wird, erhält sie eine genuin musiktheatralische Wirkung Das Musiktheater bringt die inneren »Bewegungen der Seele« zur Erscheinung und zwar auf eine wesentlich musikalische Art und Weise. Fast in dem gesamten Allegro molto più mosso (sechs Takte vor Buchstabe M bis zehn Takte nach Buchstabe N) besteht kein Anlass zu einer äußeren szenischen Aktion, die Konstellation der beiden auf der Bühne befindlichen Personen ist klar. Innerhalb dieser bestimmten Konstellation lässt die bewegte Musik »das innere Leben zu Tönen erklingen« (Hegel). Damit sie dieses leistet, darf keine szenische Verrichtung den musikalischen Verlauf analog verdoppeln. Der Zuschauer nimmt am musikalisch erklingenden »inneren Leben« der Figur teil, wenn die Szene die »Besonderung« bewirkt, der Musik bedarf, um Empfindungen zu evozieren.

Einige Takte später provoziert Jagos Weigerung zu sagen, was er wüsste, einen neuen Ausbruch Othellos (»[. . . ] müßt’ ich schweigen«). Verdi komponiert ein gesprochenes »Ah« Othellos. Jedoch lässt Verdi Jago fortfahren, die Musik wird nicht wesentlich durch den Einwurf Othellos unterbrochen.

Felsenstein inszeniert direkt vor diesem verbalen Einwurf Othellos bereits eine körperliche Reaktion. Eine rapide Drehung des Kopfes kündigt den erneuten Ausbruch an. Um Othellos Ausbruch an dieser Stelle zu verhindern, unterbricht Jago Othello abrupt. Er kann dadurch seinen intriganten Angriff auf Othello weiterführen: hinterhältig und scheinheilig warnt er ihn vor der Eifersucht. Schon die Nennung dieses Wortes bringt Othello auf die von Jago gewünschten Gedankengänge. Damit Othello weiter stillhält und zuhört, redet Jago in einem sicheren und beschwörenden Tonfall auf Othello ein. Durch diese szenische Lösung ist sowohl Othellos Einwurf als auch das Fortfahren der Musik, also Verdis Partitur, die Quelle für die szenische Lösung Felsensteins. Wiederum kontrastiert die ruhige Musik den innerlich aufgewühlten Othello und macht in diesem Gegensatz zwischen szenischer Situation und Musik den eigentlichen Handlungsverlauf – Jagos Plan – um so deutlicher.

Danach erst folgt Othellos großer Ausbruch. Auch bei diesem Ausbruch verdoppelt Felsenstein nicht die Musik szenisch. Die musikalische Figur, die das unwillige


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