- 71 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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begründbar, denn die Musik wäre nicht Ausdruck einer Emotion, sondern Reflexion über eine Idee. Die erste Wirkung besteht dann darin, dass sie aus der Jago-Figur den Träger dieser Idee macht und deren Kommentierung nahelegt.

Verdi hat schon durch den Sturmchor der 1. Szene eine ›Fallhöhe‹ des Pathos etabliert, das die Figuren ebenso monströs werden lässt wie ihre Handlungen in dieser Oper sind. Dass Verdis Exposition mit dem existenziellen Ausmaß der Stückhandlung auch den Umriss der inneren Zustände der handelnden Figuren angibt, ließe sich ebenso an dem »Credo« Jagos wie z. B. Othellos Ausbruch gegen Jago in der 5. Szene des II. Aktes (Buchstabe E) zeigen: Othellos Zorn hat den musiksprachlichen Umriss einer Sturm-Musik (Streicher jagen durch Tonleiter-Abschnitte, abgeschlossen durch einen Akkord in fortissimo im ganzen Orchester), eben einer Naturgewalt! Dieses – wirklichkeitsferne – Pathos legt eine Auffassung nahe, die Charaktere zu Trägern ›übermenschlicher‹ Prinzipien und Ideen macht.

Othello und Jago deswegen als Träger eines Prinzips zu verstehen, widerspricht dem Theater Felsensteins. Ihm geht es darum, eine menschliche Figur entstehen zu lassen, deren innerliche Zustände sich plausibel in ihrer Musik ausdrücken. Die psychologische Begründung der Musik Jagos oder Othellos lässt freilich monströse Figuren entstehen, aber nicht monströs als Resultat einer kommentierend bezeichnenden Musik, sondern dadurch, dass die Musik die Monstrosität der Innerlichkeit der Figuren erleben lässt. Wenn also der Zorn Othellos an die Sturm-Szene des Beginns erinnert, wenn Jagos Gebet mit den Trompeten des Jüngsten Gerichts erklingt, so vermittelt uns die Musik etwas über die extreme Innenwelt der Figuren. Damit sie das kann, muss die Szene uns einen Charakter zeigen, dessen Innenwelt glaubhaft die Extremität dieser Musik umfasst, der diese Musik überzeugend individualisiert.

Wenn Jago in Felsensteins Inszenierung des »Credo« sich vor seinem vorletzten Satz (»Dem Tod folgt nichts mehr«) zum pizzicato der Streicher langsam, unbewusst an die eigene Kehle fasst und dann seine blitzartige Erkenntnis (»Das Jenseits ist Betrug«), die ihm sein Handeln – vermeintlich – legitimiert, folgt, so ist klar, dass der Kern dieser Figur maßlose Angst ist. Das liegende c der tiefen Streicher meint in dieser Version das Grauen Jagos. Würde dagegen Jago als »Prototyp des Bösen« inszeniert, so würde der gleiche Klang das Grauenhafte des geäußerten Gedankens bezeichnen.

Die geniale Komposition dieser für die Sicht auf Jago zentralen Stelle sei kurz erläutert:


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