- 72 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Vor Jagos letzter Frage nach dem Jenseits (»Und dann?«) erklingt b-Moll, dann f, in der zweiten Takthälfte das liegende C dominantisch dazu. Das C leitet dann zum Des. Jagos Gesangseinsatz bringt eindeutig b-Moll, bevor im forte das Ges-Dur ›einschlägt‹. Das Ende, das Ziel des harmonischen Verlaufs ist nicht zu erahnen. Dieser harmonische Verlauf als Jagos Frage nach dem Jenseits begleitende Empfindung gedeutet, lässt diese im Nichts enden, in einer gewissen Unbestimmtheit. Das kaum erreichte b-Moll wird durch das blitzartige Ges-Dur wiederum weggewischt. Den Gedanken, Musik bedeute im Theater Handlung, ernst zu nehmen, bedeutet, zu erklären, warum an dieser Stelle des »Credo« die hingetropften pizzicati so modulieren, wie sie es tun. Wenn eine Empfindung in einer bestimmten Tonart geäußert wird, so deutet eine neue Tonart eine Veränderung des innerlichen Zustandes an; wenn ein harmonischer Verlauf in der Art, wie Verdi es an dieser Stelle komponiert hat, verläuft – eine Art, die gerade den Übergang festhält, nämlich einen harmonischen Schwebezustand, in dem ein Ton zwar eine Richtung angibt, diese jedoch nicht eindeutig hörend erfassbar ist – , so bedeutet das für die Empfindung der Figur analoges. Helmut Franz hat vorgeschlagen,

»die Identifikation harmonischen, modulatorischen Geschehens mit seelischen Zuständen [...] zu einem der Grundbezüge von Musik und Szene werden«53

53
Franz, Helmut: »Die Partitur als Regiebuch« in: Regie fürs Musiktheater. 10 Jahre Studiengang Musiktheater-Regie in Hamburg, hrsg. von der Pressestelle der Universität Hamburg, Hamburg, 1984, S. 21ff.

zu lassen. An zahlreichen Beispielen belegt er seine These:

»Die Tonart wird zum seelischen Raum, in dem der singende Darsteller empfindet und handelt. Dieser »Empfindungsraum« kann durch Tonartwechsel verändert, durch Dissonanzen gestört oder sogar zerstört werden. Änderungen in der seelischen Bereitschaft zu gesteigerter äußerer Aktivität oder zu intensiverer Versenkung können durch Modulationen in den Oberdominantbereich oder in den Unterdominantbereich dargestellt werden.«54

54
ebd., S. 25

Es ist noch darauf hinzuweisen, dass der »seelische Raum, in dem der singende Darsteller empfindet« in der mittels Einfühlung erarbeiteten Darstellung idealiter derjenige der darzustellenden Figur ist.

Nimmt man den Text der eben besprochenen ›Credo‹-Stelle hinzu, so konkretisiert er den harmonischen Verlauf: »Was aber folgt nach all dem Spott? Der Tod!


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