- 70 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (69)Nächste Seite (71) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

»Rest von Moral« schließen. Durchaus ließe sich denken, dass dieses ›Gebet‹ der Blasphemie des Zynikers entspringt. Es sei nur kurz auf eine etwa zeitgleich entstandene Inszenierung des ›Othello‹ von Otto Schenk50
50
Premiere am Staatstheater Stuttgart 23.12.1963, R: Otto Schenk. A.: Leni Bauer-Ecsy
verwiesen, die von Reinhard Mieke folgendermaßen beschrieben wird:

»Nein, Angstschweiß schwitzt Jago bei Schenk keineswegs. Er gibt sich im Gegenteil, wo’s irgend angeht, desinteressiert, gleichsam überdrüssig des ganzen Schwindels, den Othello mit ihm und er mit Othello treibt. [...] Fast will es scheinen, als komme dieser Jago mit dem warmen Herzen unter der rauhen Landsknechtschale, der eher entspannt wirkt als beständig auf der Lauer liegend, den Beschreibungen Verdis51

51
Der Autor Reinhard Mieke bezieht sich hier sicherlich auf Verdis Brief an Domenico Morelli vom 24.9.1881, in dem er eine kurze Charakteristik des Jago abgibt: »[. . . ] sein [Jagos] Gehaben wäre das eines Zerstreuten, nonchalant, gleichgültig gegen alles, skeptisch, witzelnd. Er sagt das Gute wie das Böse leichthin mit einer Miene, als dächte er eher an alles andere als an das, was er spricht.« (zit. nach: Guiseppe Verdi. Briefe hrsg. Von Hans Busch, Fischer Taschenbuch Verlag, 1979, S. 161) Dass Reinhard Mieke, Dramaturg an der Komischen Oper Berlin und Herausgeber des Programmheftes zur ›Othello‹-Produktion zu dieser Einschätzung gelangt, kann nur auf den ersten Blick verblüffen. Weder muss das, was der Autor eines Kunstwerks als dessen Intention angibt, mit dem, was im Kunstwerk dargestellt wird, zusammenfallen, noch ist auszuschließen, dass eine – abweichende – schlüssige szenische Lösung einen Mitarbeiter Felsensteins überzeugte. Würde das Zweite zutreffen, so wäre es allerdings ein interessanter Hinweis darauf, wie der von Felsenstein und seinem Mitarbeiterstab durchaus erhobene Anspruch auf Objektivität in der Stückanalyse verstanden wurde. Die theoretisch-wissenschaftliche Arbeit bezöge sich dann auf das praktische Resultat, die Inszenierung, Analyse wäre richtig, wenn ihre Ergebnisse zutreffen und damit nützlich sind für die Inszenierung – ein durchaus legitimer Standpunkt, der sich vom rein wissenschaftlichen Standpunkt jedoch unterscheidet. Legitim nicht, weil von Theaterpraktikern eingenommen, sondern, weil sich ein Opern-Kunstwerk erst in seiner szenischen Realisation verwirklicht. Die Erforschung einer Oper, die seine Inszenierung zu ihrem Kriterium erhebt, macht theoretisch wahr, das vom Kunstwerk Oper nur auf der Bühne gesprochen werden kann.
von dieser faszinierenden Gestalt sehr viel näher als der von Felsenstein.«52
52
Mieke, Reinhard: Drei Regisseure und Verdis ›Othello‹. Ein Vergleich der Inszenierungen Walter Felsensteins, Otto Schenks und Wieland Wagners in: Opernwelt 7/1965

Der Grund für Felsensteins Sichtweise wird deutlich, wenn man Schenks szenische Lösung, die hier nur beispielhaft hinzugezogen sein soll, mit den analytischen Mitteln Felsensteins befragt: warum würde ein solcher Jago das Credo singen? Doch nicht aus der Felsensteinschen Notwendigkeit »nurmehr singend« sich äußern zu können. Der szenische Gedanke dieser Auffassung besteht darin, ein Porträt zu geben, die Musik kommentiert dann die Ungeheuerlichkeiten der im Text gemachten Aussagen. Diese Realisierung kalkuliert mit dem Widerspruch der Szene zur Musik, befindet sich also in deutlichem Gegensatz zu Felsensteins Auffassung von Musiktheater.

Die Kriterien Felsensteins für Musiktheater vorausgesetzt, kann er nur zu einer Lösung kommen, jener, die das Ausmaß an Zerrissenheit und Unausweichlichkeit, die das Credo hat, aus der Figur Jagos begründet. Wenn Musik einer Figur ›gehört‹, deren menschlicher Ausdruck ist, dann muss ihr Anlass, der aus Figur und Handlung zu entwickeln ist, deutlich sein. Es braucht einen psychologischen Grund für das Credo – und den erläutert Götz Friedrich in seinem Beitrag für das Programmheft. Eine Musik des Prototyps des Bösen dagegen wäre psychologisch nicht


Erste Seite (i) Vorherige Seite (69)Nächste Seite (71) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 70 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch