»Rest von Moral« schließen. Durchaus ließe sich denken, dass
dieses ›Gebet‹ der Blasphemie des Zynikers entspringt. Es sei nur kurz
auf eine etwa zeitgleich entstandene Inszenierung des ›Othello‹ von Otto
Schenk50
Premiere am Staatstheater Stuttgart 23.12.1963, R: Otto Schenk. A.: Leni Bauer-Ecsy
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verwiesen, die von Reinhard Mieke folgendermaßen beschrieben wird:
»Nein, Angstschweiß schwitzt Jago bei Schenk keineswegs. Er gibt sich
im Gegenteil, wo’s irgend angeht, desinteressiert, gleichsam überdrüssig
des ganzen Schwindels, den Othello mit ihm und er mit Othello
treibt. [...] Fast will es scheinen, als komme dieser Jago mit
dem warmen Herzen unter der rauhen Landsknechtschale, der eher
entspannt wirkt als beständig auf der Lauer liegend, den Beschreibungen
Verdis51
Der Autor Reinhard Mieke bezieht sich hier sicherlich auf Verdis Brief
an Domenico Morelli vom 24.9.1881, in dem er eine kurze Charakteristik
des Jago abgibt: »[. . . ] sein [Jagos] Gehaben wäre das eines Zerstreuten,
nonchalant, gleichgültig gegen alles, skeptisch, witzelnd. Er sagt das Gute
wie das Böse leichthin mit einer Miene, als dächte er eher an alles andere
als an das, was er spricht.« (zit. nach: Guiseppe Verdi. Briefe hrsg. Von
Hans Busch, Fischer Taschenbuch Verlag, 1979, S. 161) Dass Reinhard
Mieke, Dramaturg an der Komischen Oper Berlin und Herausgeber des
Programmheftes zur ›Othello‹-Produktion zu dieser Einschätzung gelangt,
kann nur auf den ersten Blick verblüffen. Weder muss das, was der Autor
eines Kunstwerks als dessen Intention angibt, mit dem, was im Kunstwerk
dargestellt wird, zusammenfallen, noch ist auszuschließen, dass eine –
abweichende – schlüssige szenische Lösung einen Mitarbeiter Felsensteins
überzeugte. Würde das Zweite zutreffen, so wäre es allerdings ein interessanter
Hinweis darauf, wie der von Felsenstein und seinem Mitarbeiterstab durchaus
erhobene Anspruch auf Objektivität in der Stückanalyse verstanden wurde.
Die theoretisch-wissenschaftliche Arbeit bezöge sich dann auf das praktische
Resultat, die Inszenierung, Analyse wäre richtig, wenn ihre Ergebnisse
zutreffen und damit nützlich sind für die Inszenierung – ein durchaus
legitimer Standpunkt, der sich vom rein wissenschaftlichen Standpunkt
jedoch unterscheidet. Legitim nicht, weil von Theaterpraktikern eingenommen,
sondern, weil sich ein Opern-Kunstwerk erst in seiner szenischen Realisation
verwirklicht. Die Erforschung einer Oper, die seine Inszenierung zu ihrem
Kriterium erhebt, macht theoretisch wahr, das vom Kunstwerk Oper nur auf
der Bühne gesprochen werden kann.
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von dieser faszinierenden Gestalt sehr viel näher als der von
Felsenstein.«52
Mieke, Reinhard: Drei Regisseure und Verdis ›Othello‹. Ein Vergleich der
Inszenierungen Walter Felsensteins, Otto Schenks und Wieland Wagners in:
Opernwelt 7/1965
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Der Grund für Felsensteins Sichtweise wird deutlich, wenn man Schenks szenische
Lösung, die hier nur beispielhaft hinzugezogen sein soll, mit den analytischen Mitteln
Felsensteins befragt: warum würde ein solcher Jago das Credo singen? Doch nicht aus
der Felsensteinschen Notwendigkeit »nurmehr singend« sich äußern zu können.
Der szenische Gedanke dieser Auffassung besteht darin, ein Porträt zu geben,
die Musik kommentiert dann die Ungeheuerlichkeiten der im Text gemachten
Aussagen. Diese Realisierung kalkuliert mit dem Widerspruch der Szene zur
Musik, befindet sich also in deutlichem Gegensatz zu Felsensteins Auffassung von
Musiktheater.
Die Kriterien Felsensteins für Musiktheater vorausgesetzt, kann er nur zu einer Lösung
kommen, jener, die das Ausmaß an Zerrissenheit und Unausweichlichkeit, die das Credo
hat, aus der Figur Jagos begründet. Wenn Musik einer Figur ›gehört‹, deren
menschlicher Ausdruck ist, dann muss ihr Anlass, der aus Figur und Handlung zu
entwickeln ist, deutlich sein. Es braucht einen psychologischen Grund für das Credo –
und den erläutert Götz Friedrich in seinem Beitrag für das Programmheft. Eine Musik
des Prototyps des Bösen dagegen wäre psychologisch nicht
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