- 5 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Dass ein Werk auf der Bühne interpretiert wird, es also keine ›Originalgestalt‹ gibt, die es bloß zu realisieren gilt, war auch Felsenstein klar. Vielmehr rückt er für die Qualifizierung einer Regiearbeit das Motiv des Regisseurs für dessen Entfernung von ablesbaren Stückintentionen in den Vordergrund. Anlässlich seiner Wallenstein-Inszenierung 1972 in München antwortet Felsenstein auf die Frage nach seiner Positionierung zwischen den ›werktreuen‹ Klassiker-Aufführungen in der DDR und den ›kritischen Inszenierungen‹ in der Bundesrepublik der Klassiker folgendermaßen: »Ich finde es im Interesse unseres Berufes sehr bedauerlich, wenn vielerorts wertvolle dramatische Dichtungen für persönliche Originalitätssucht von Regisseuren mißbraucht werden. Es ist nicht schwer, ›Regieeinfälle‹ zu haben, aber es ist, auch wenn es ein wenig kitschig klingt, fast eine Gnade, einen Klassiker in allen Intentionen zu begreifen.« [...] Und auf die Frage, was ›Theaterdekadenz‹- bedeute, bemerkt der Regisseur: ›Aber dass man Klassiker zu solchen Dingen [vorher sprach Felsenstein von ›Sexy-Theater und solchen Dingen‹] verwertet, auch zu geschmacklosen, politischen Einseitigkeiten – das ist eine Dekadenzerscheinung.‹5
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Felsenstein, Walter: Schriften, S. 394

Dieses Verständnis von ›Dekadenz‹ umfasst zwei bemerkenswerte Aspekte. Der Begriff wurde in der DDR synonym für ›nicht progressive‹ kulturelle Produktionen des westlichen Auslandes sowie für zum ›Formalismus‹ zählende Werke gebraucht. Felsenstein bezieht ihn jedoch auch auf »politische Einseitigkeiten«, womit er nur aktuelle sich dem Sozialistischen Realismus verpflichtet fühlende Tendenzen im damaligen Theaterbetrieb der DDR meinen konnte. Die festzustellende Distanz Felsensteins zum Sozialistischen Realismus wird später noch thematisiert, vorher soll aber Felsensteins Verhältnis zum Regietheater, dem Braunmüller Felsensteins Arbeit zuordnet, noch genauer gefasst werden. Felsenstein wirft im obigen Interview Regie-Tendenzen vor, ein Stück für ›stückfremde‹ Interessen zu ge-, d. h. zu missbrauchen und bezieht dies sowohl aufs westliche Regietheater als auch auf linientreues politisches Theater der DDR. Damit beschränkt er Regietätigkeit jedoch keinesfalls darauf, die einzig richtige Inszenierung eines Stückes hervorzubringen. Vielmehr hält Felsenstein an der schöpferischen Eigenleistung bei der Realisierung von Theater auf der Bühne fest. Exemplarisch sei auf einen Ausschnitt aus einem Akademie-Dialog über Felsensteins letzte ›Carmen‹-Inszenierung von 1972 verwiesen, den Manfred Koerth in seine Dokumentation dieser Inszenierung mit aufnahm: »Ein junger Regisseur mit einer tiefen, echten Begabung, der meine Konzeption verfolgt, verstanden und als Konzeption anerkannt hat, wird als erstes all das, was er bei mir gesehen hat, über den Haufen werfen, um aus dieser Konzeption – sofern er von ihr überzeugt ist – etwas Neues machen, sie für die heutige Zeit in seiner Weise neu darzustellen.«6

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Koerth, Manfred: Felsenstein inszeniert Carmen, S. 87

Im Weiteren entwickelt Felsenstein seine Kritik des Begriffes der Werktreue. Dabei stellt er klar, dass dieser Begriff, gerade weil er die – kaum zu realisierende – Möglichkeit einer vollständigen Erkenntnis über ein Werk impliziere, einen sich hieraus notwendig ergebenden schöpferischen Charakter einer jeden Inszenierung nach sich


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