Diese Vorgänge sind »weit vielfältiger und komplizierter als aus den Noten und dem
Text ablesbar« ist. Indem der Sänger erkennt, »daß er – singend wie auch nicht
singend – während seines ganzen Bühnendaseins handelt«, erfährt er jetzt,
was Handlung bedeutet, nämlich keineswegs die bloße Aktion auf der Bühne,
sondern das Verfolgen der Absichten der darzustellenden Figur. Vom Standpunkt
ihrer Absichten sind sämtliche Bühnenvorgänge zu bewerten und darauf zu
reagieren. Dadurch, wie die Figur in ihnen vorkommt, bestimmen sich ihre
inneren Zustände. Insofern soll alles, was der Sänger tut und singt, Ausdruck
seiner (darzustellenden) Person sein und nicht in Darstellung und Schöngesang
auseinanderfallen.
»Der zu diesem Grad von Selbständigkeit gelangte Musikdarsteller [...] wird den Partner nicht mehr ›ansingen‹, sondern sich ihm singend mitteilen. Er weiß, daß die Schönheit eines wohllautenden Organs auf nichts anderem als auf der Wahrheit seiner menschlichen Aussage beruht.«104
Die oben beschriebene Arbeit des Sängers hat Felsenstein sechs Jahre später, nämlich 1971, in seinem zentralen Vortrag »Bekenntnis zum musizierenden Theater« an der Universität Boston genauer ausgeführt.105
»Anstelle schöpferischer Intuition wird für die gesangliche und darstellerische Aussage wieder das Gedächtnis beansprucht. Derart mit sich selbst beschäftigt, vernachlässigt oder versäumt der Sänger die glaubhafte Beziehung zum Partner und begnügt sich unwissentlich mit der Rezitation der Partie.«106
Durch pures Auswendiglernen der Partie richte der Sänger seine Disposition auf das Abspulen der Partie aus und schütte dadurch die Quellen schöpferischer Probenarbeit zu, derer sich vor allem in der Arbeitsphase der beginnenden Einfühlung in einen Zustand zu widmen sei. Es sei nötig, die emotionalen Umrisse einer Partie vor jedem Rollen- und Werkstudium kennenzulernen, und zwar durch »Übungen für den emotionellen, vokalen und körperlichen Ausdruck«.107
Felsenstein berührt hier einen Punkt seiner Ästhetik, der in der Praxis (und auch in der Theorie) größte Schwierigkeiten aufwirft. Der Darsteller muss seinen |