- 48 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Diese Vorgänge sind »weit vielfältiger und komplizierter als aus den Noten und dem Text ablesbar« ist. Indem der Sänger erkennt, »daß er – singend wie auch nicht singend – während seines ganzen Bühnendaseins handelt«, erfährt er jetzt, was Handlung bedeutet, nämlich keineswegs die bloße Aktion auf der Bühne, sondern das Verfolgen der Absichten der darzustellenden Figur. Vom Standpunkt ihrer Absichten sind sämtliche Bühnenvorgänge zu bewerten und darauf zu reagieren. Dadurch, wie die Figur in ihnen vorkommt, bestimmen sich ihre inneren Zustände. Insofern soll alles, was der Sänger tut und singt, Ausdruck seiner (darzustellenden) Person sein und nicht in Darstellung und Schöngesang auseinanderfallen.

»Der zu diesem Grad von Selbständigkeit gelangte Musikdarsteller [...] wird den Partner nicht mehr ›ansingen‹, sondern sich ihm singend mitteilen. Er weiß, daß die Schönheit eines wohllautenden Organs auf nichts anderem als auf der Wahrheit seiner menschlichen Aussage beruht.«104

104
ebd., S. 142

Die oben beschriebene Arbeit des Sängers hat Felsenstein sechs Jahre später, nämlich 1971, in seinem zentralen Vortrag »Bekenntnis zum musizierenden Theater« an der Universität Boston genauer ausgeführt.105

105
ebd., S. 182ff.
Dort warnt er davor, eine Rolle »vokal und musiktechnisch« einzustudieren, ohne Partitur und inhaltliche Konzeption zu kennen. Dadurch würde der Sänger, die dramatisch folgerichtigen Zusammenhänge nicht erkennend die Partie »vorrangig mnemotechnisch« erarbeiten. Die Folge wäre:

»Anstelle schöpferischer Intuition wird für die gesangliche und darstellerische Aussage wieder das Gedächtnis beansprucht. Derart mit sich selbst beschäftigt, vernachlässigt oder versäumt der Sänger die glaubhafte Beziehung zum Partner und begnügt sich unwissentlich mit der Rezitation der Partie.«106

106
ebd., S. 188

Durch pures Auswendiglernen der Partie richte der Sänger seine Disposition auf das Abspulen der Partie aus und schütte dadurch die Quellen schöpferischer Probenarbeit zu, derer sich vor allem in der Arbeitsphase der beginnenden Einfühlung in einen Zustand zu widmen sei.

Es sei nötig, die emotionalen Umrisse einer Partie vor jedem Rollen- und Werkstudium kennenzulernen, und zwar durch »Übungen für den emotionellen, vokalen und körperlichen Ausdruck«.107

107
ebd.
Diese Übungen fordert Felsenstein schon in der Ausbildung, um unabhängig von einer Partie gewissermaßen einen sensitiven Apparat zu schulen, der den Ansprüchen der psychischen Verfassung des Darstellers musikalisch geprägter Zustände gerecht werden kann. Erst wenn der Darsteller diese psychische Verfassung herstellen könne, sei eine »Metamorphose [. . . ], in der alle erlernte Technik dieser Aussage dienstbar wird«,108
108
ebd.
möglich.

Felsenstein berührt hier einen Punkt seiner Ästhetik, der in der Praxis (und auch in der Theorie) größte Schwierigkeiten aufwirft. Der Darsteller muss seinen


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