Die sich aus Felsensteins Musiktheater ergebende Notwendigkeit dieses Gedankens
bedarf einer Erklärung. In musiktheatralischen Werken besitzt Musik eine ausschließlich
musikdramatische Funktion, sie konstituiert neben dem Text die durch ihre Handlungen
in die Stückhandlung verstrickten Figuren. Das gilt nicht nur für den Gesangspart,
sondern ebenso für den Orchesterpart. Auch dieser muss als musikdramatischer
ein Teil der Handlung sein, weil er ebenso wie der Gesang das Innenleben der
Figuren musikalisch ausdrückt. Der Orchesterpart ›gehört‹ einer handelnden
Person, wenn er sich aus deren Handlungen begründet. Damit dies hörbar wird,
muss der Darsteller auch den Orchesterpart durch sein Handeln veranlassen,
gewissermaßen den Orchesterpart individualisieren, damit die erklingende Musik
den Zustand der Bühnenfigur ausdrückt. Der Zuschauer schreibt dann das,
was er hört, der Handlung auf der Bühne und damit der handelnden Figur
zu.100
Die Auffassung der Musik als Handlung und Ausdruck ist nur historisch eingeschränkt
anwendbar. Die Einschränkung begründet sich aus ihrer musikästhetischen Grundlage, dass
die Musik Gefühlsschilderungen vornimmt, was auf einen Großteil der Werke zumindest
ab der zweiten Hälfte des 18. Jhrdts. bis ins 20. Jhrdt. hinein zutrifft. Zu einer
ähnlichen Datierung auf der Grundlage des Kriteriums des Ausdrucksprinzips kommt auch
Arnold Feil (vgl. Feil, Arnold: Metzler Musikchronik Stuttgart, Weimar: Metzler, 1993,
S. 306f.) Ein Grund hierfür dürfte in der Ablösung der Musikästhetik vom Primat der
Naturnachahmng liegen. Vgl. näher dazu: Fubini, Enrico: Geschichte der Musikästhetik,
140ff. Eine genauere musikästhetische Begründung und Darstellung müsste davon ausgehen,
wie in der jeweiligen zeitgenössischen Ästhetik gerade der Mangel der Musik, nur eine
beschränkt zur Nachahmung fähige Kunst zu sein, in der zweiten Hälfte mit der Entdeckung
der Innerlichkeit zu einer Grundlage für die allseits gewürdigten Kunstform Musik wird. Ihr
primäres Charakteristikum, Ausdrucksfunktion zu besitzen, wurde einer neuen Bewertung
unterzogen. Vgl. Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik, Bärenreiter-Verlag, Kassel,
1978, S. 52ff. Eine Modifikation stellt das »kontemplative Ensemble« dar (vgl. Dahlhaus,
Carl: Vom Musikdrama zur Literaturoper, R. Piper GmbH&CO.KG, München, 1983,
S. 41ff.). Dahlhaus legt dar, inwiefern das kontemplative Ensemble auf der Grundlage einer
zu einem Bild eingefrorenen Personenkonstellation beredt wird und konstatiert dies als Relikt
einer Affektdramaturgie, die im 19. Jahrhundert zur Ausnahme wurde und als ebensolche für
dramatisch besondere Momente von den Komponisten genutzt wurde. In den meisten Fällen
steht im Mittelpunkt dieses als »Tableau« treffend beschriebenen Bildes die Hauptfigur mit
ihrem Konflikt, der durch Ensemble und Chor eine transzendierende Wirkung erhält.
|
Um diese Wirkung zu erzielen, ist es nötig, dass der Darsteller in Kenntnis der
gesamten Partitur handelt. Da er singend handeln soll, also eine Stückhandlung
konstituieren soll, muss seine Figur auch aus dieser entwickelt sein, der Sänger
muss
»den Zusammenhang seiner
Partie mit den Vorgängen des Stückes, die Beziehungen zu den anderen
Rollen«101
Felsenstein, Schriften, S. 140
|
suchen. Die Konstruktion der Vorgeschichte wird nötig, um den »gesamten
Charakter einer Rolle kennenzulernen«. Diese Konstruktion umfasst sowohl
analytisch erworbenes Wissen als auch darauf aufbauende phantasievolle
Arbeit.102
»Es ist eine Frage des künstlerischen Verantwortungsbewußtseins und des Geschmacks der
Interpreten, wieweit sie dabei ihre Phantasie gewähren lassen.« Felsenstein, Schriften , S. 141
|
Diese Arbeit mündet in der genauen Kenntnis der Ausgangssituation zu Beginn des
Stückes. In ihr ist die Konstellation der Interessen der handelnden Personen
zusammengefasst. Durch das Verfolgen dieser Interessen nimmt der Gang der
Handlung seinen Lauf, was zu veränderten Konstellationen der Interessen
führt.103
»Oft gegensätzliche Interessen und Absichten stehen einander gegenüber. Im Verlauf des
Stückes verändern sich diese Beziehungen.« Ebd.
|
|