- 47 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Die sich aus Felsensteins Musiktheater ergebende Notwendigkeit dieses Gedankens bedarf einer Erklärung. In musiktheatralischen Werken besitzt Musik eine ausschließlich musikdramatische Funktion, sie konstituiert neben dem Text die durch ihre Handlungen in die Stückhandlung verstrickten Figuren. Das gilt nicht nur für den Gesangspart, sondern ebenso für den Orchesterpart. Auch dieser muss als musikdramatischer ein Teil der Handlung sein, weil er ebenso wie der Gesang das Innenleben der Figuren musikalisch ausdrückt. Der Orchesterpart ›gehört‹ einer handelnden Person, wenn er sich aus deren Handlungen begründet. Damit dies hörbar wird, muss der Darsteller auch den Orchesterpart durch sein Handeln veranlassen, gewissermaßen den Orchesterpart individualisieren, damit die erklingende Musik den Zustand der Bühnenfigur ausdrückt. Der Zuschauer schreibt dann das, was er hört, der Handlung auf der Bühne und damit der handelnden Figur zu.100
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Die Auffassung der Musik als Handlung und Ausdruck ist nur historisch eingeschränkt anwendbar. Die Einschränkung begründet sich aus ihrer musikästhetischen Grundlage, dass die Musik Gefühlsschilderungen vornimmt, was auf einen Großteil der Werke zumindest ab der zweiten Hälfte des 18. Jhrdts. bis ins 20. Jhrdt. hinein zutrifft. Zu einer ähnlichen Datierung auf der Grundlage des Kriteriums des Ausdrucksprinzips kommt auch Arnold Feil (vgl. Feil, Arnold: Metzler Musikchronik Stuttgart, Weimar: Metzler, 1993, S. 306f.) Ein Grund hierfür dürfte in der Ablösung der Musikästhetik vom Primat der Naturnachahmng liegen. Vgl. näher dazu: Fubini, Enrico: Geschichte der Musikästhetik, 140ff. Eine genauere musikästhetische Begründung und Darstellung müsste davon ausgehen, wie in der jeweiligen zeitgenössischen Ästhetik gerade der Mangel der Musik, nur eine beschränkt zur Nachahmung fähige Kunst zu sein, in der zweiten Hälfte mit der Entdeckung der Innerlichkeit zu einer Grundlage für die allseits gewürdigten Kunstform Musik wird. Ihr primäres Charakteristikum, Ausdrucksfunktion zu besitzen, wurde einer neuen Bewertung unterzogen. Vgl. Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik, Bärenreiter-Verlag, Kassel, 1978, S. 52ff. Eine Modifikation stellt das »kontemplative Ensemble« dar (vgl. Dahlhaus, Carl: Vom Musikdrama zur Literaturoper, R. Piper GmbH&CO.KG, München, 1983, S. 41ff.). Dahlhaus legt dar, inwiefern das kontemplative Ensemble auf der Grundlage einer zu einem Bild eingefrorenen Personenkonstellation beredt wird und konstatiert dies als Relikt einer Affektdramaturgie, die im 19. Jahrhundert zur Ausnahme wurde und als ebensolche für dramatisch besondere Momente von den Komponisten genutzt wurde. In den meisten Fällen steht im Mittelpunkt dieses als »Tableau« treffend beschriebenen Bildes die Hauptfigur mit ihrem Konflikt, der durch Ensemble und Chor eine transzendierende Wirkung erhält.
Um diese Wirkung zu erzielen, ist es nötig, dass der Darsteller in Kenntnis der gesamten Partitur handelt. Da er singend handeln soll, also eine Stückhandlung konstituieren soll, muss seine Figur auch aus dieser entwickelt sein, der Sänger muss

»den Zusammenhang seiner Partie mit den Vorgängen des Stückes, die Beziehungen zu den anderen Rollen«101

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Felsenstein, Schriften, S. 140

suchen. Die Konstruktion der Vorgeschichte wird nötig, um den »gesamten Charakter einer Rolle kennenzulernen«. Diese Konstruktion umfasst sowohl analytisch erworbenes Wissen als auch darauf aufbauende phantasievolle Arbeit.102

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»Es ist eine Frage des künstlerischen Verantwortungsbewußtseins und des Geschmacks der Interpreten, wieweit sie dabei ihre Phantasie gewähren lassen.« Felsenstein, Schriften , S. 141
Diese Arbeit mündet in der genauen Kenntnis der Ausgangssituation zu Beginn des Stückes. In ihr ist die Konstellation der Interessen der handelnden Personen zusammengefasst. Durch das Verfolgen dieser Interessen nimmt der Gang der Handlung seinen Lauf, was zu veränderten Konstellationen der Interessen führt.103
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»Oft gegensätzliche Interessen und Absichten stehen einander gegenüber. Im Verlauf des Stückes verändern sich diese Beziehungen.« Ebd.


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