- 49 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (48)Nächste Seite (50) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

jeweiligen Zustand erfassen und auch erinnern können, um zu einer gültigen Interpretation zu gelangen. Da dieser Zustand im Musiktheater musikalisch bestimmt ist, ist er dem Begrifflichen kaum zugänglich, die Beschreibbarkeit seines Inhaltes zumindest problematisch. Da er notwendig »ungewöhnlich«, unserer Alltagswelt fern sein muss, ist es für den Darsteller unerlässlich, sich in dieser Welt ungewöhnlicher, nur singend zu äußernder Zustände bewegen zu lernen, bildhaft gesprochen, die Sprache dieser Welt zu erlernen.

Welch artifizielle szenische Realisierungen musikalischer Handlung Felsenstein vorschwebten, verraten Bemerkungen in zwei Interviews, die er 1971 gab. (Es wurde vorher von theatralisierten Gesten in Felsensteins Inszenierungen gesprochen):

Felsenstein: »Da nähert sich die Geste des Operndarstellers dem Tanz, dem Tanzausdruck oder dem tanzmimischen Ausdruck.«109

109
aus einem Interview mit Manfred Wekwerth, ebd., S. 484

Und in einem anderen Interview:

»[...] das meiste habe ich von Kindern gelernt, weil das Kind sich total körperlich äußert und bewegt. Die Sinne des Menschen im weitesten Umfange benutzen, das ist doch der Sinn einer erweiterten Darstellungskunst überhaupt.«110

110
aus einem Interview mit Manfred Koerth, ebd., S. 491

Dieser kurz skizzierte Weg der Probenarbeit gehorcht dem ästhetischen Prinzip der »Einfühlung«. Die letzten beiden Äußerungen verweisen darauf, dass Felsenstein bewusst war, dass die Echtheit eines theatralischen Vorganges nicht sein Maß im Vergleich zur alltäglichen Wirklichkeit hat. Er fasst Einfühlung als schauspielmethodischen Begriff auf, weil er von der Realität des Darstellers auszugehen hat. Felsenstein ist klar, dass der Darsteller zunächst nur sich als Darstellungsmittel hat. Um sich in die Bühnenfigur zu verwandeln, muss er die Ressourcen seines privaten Ich benutzen. Wie diese Bühnenfigur dann aussieht, ob sie nachahmend oder verfremdet dargestellt wird, ob abstrakt oder naturalistisch, resultiert nicht direkt daraus, dass der Darsteller einfühlend gearbeitet hat. Systematisch zu unterscheiden ist bei der Klärung dieses Begriffes die Einfühlung des Darstellers in die Figur von dem sich in die dargestellte Figur einfühlenden Publikum. Dass die Einfühlung des Publikums notwendig das bezweckte Resultat der Schauspieltechnik der Einfühlung ist, scheint Felsenstein keineswegs gedacht zu haben, wenn er bezogen auf die Geste des Operndarstellers von tanzmimischen Ausdrucksformen spricht.


Erste Seite (i) Vorherige Seite (48)Nächste Seite (50) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 49 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch