- 35 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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mit Felsenstein verfasste, zurückgriff. Es sei eine längere Passage aus Claus-Henning Bachmanns Rigoletto-Kritik in der Frankfurter Rundschau vom 1.6.62 zitiert, da in ihr das Verfahren deutlich wird, nach dem Felsensteins Opposition gegen das politische System, das ihm die anspruchsvollen Grundlagen für seine Kunst schuf, konstruiert wird.

»Im Bewußtsein dieser Sphäre [der Musik] soll sich der Mensch über den Alltag erheben, wenn auch nicht ihn wegschieben. Wie das? Ist das nicht dem ›realistischen‹ Prinzip gerade entgegensgesetzt? In der Tat scheint die Passage des mit Siegfried Melchinger gemeinsam verfaßten Buches über das Musiktheater, in der dieses Verhältnis zum Alltag beleuchtet wird, im Widerspruch zu dem eifernden Bemühen um Glaubhaftigkeit, um das Ernstnehmen der Handlung, um unverstellte Wirklichkeit zu sehen. Melchinger suchte Felsenstein festzulegen: damit würde doch zugestanden, daß der Alltag den Menschen nicht genug gäbe. Darauf der Regisseur: ›Der Alltag gibt keinem genug!‹ Das ist der ketzerische Gedanke des Buches, das ist vielleicht der Beweggrund, der Felsenstein von Zeit zu Zeit in den Westen treibt; ihn, der andererseits wie Rigoletto die Narrenkappe fortwirft: ›Ich bin ein Fanatiker der Wahrheit, weil Form ohne Wahrheit Dreck ist.‹ Der im Grunde nicht Kunst will, sondern das Leben, mag es denn auch ein gesteigertes Leben sein. Der dann doch immer wieder Kunst, zuweilen höchsterreichbare, schafft, weil er sich selber nicht verleugnen kann. Der Widerspruch ist evident, löst sich aber in der Erkenntnis, daß Felsensteins Wahrheitssuche der Rückzug aus einer Umwelt ist, in der der ›Alltag keinem genug gibt‹.«68

68
Bachmannn, Claus-Henning in: Frankfurter Rundschau vom 1.6.62; zit. nach SdAK Walter Felsenstein-Achiv Nr.528

Bachmanns Beweis fußt auf der Behauptung, mit dem Alltag, der »niemandem genügt«, sei speziell der DDR-Alltag gemeint. In der angesprochenen Passage des von Bachmann genannten Buches ist ein Gespräch zwischen Melchinger und Felsenstein dokumentiert, in dem es jedoch um eine allgemeine kunsttheoretische Betrachtung über das Verhältnis von Kunst und empirischer Wirklichkeit geht. Die elementare Bedingung für die Entstehung von Theater überhaupt sei das Bedürfnis, die beschränkte Welt der Notwendigkeiten durch ein im Reich der Phantasie möglichen Genuss der Freiheit zu überschreiten:

»Das Leben des Menschen ist im Alltag an bestimmte Vorgänge und Interessenskreise gebunden, die um so unabänderlicher werden, je älter man wird. Was nicht zu diesen Unabänderlichkeiten gehört, weckt das Interesse, das Bedürfnis, den Hunger, sogar die Leidenschaft. Es ist das Andersartige daran, das reizt. Dazu kann zweifellos auch der Genuß eines theatralischen Vorganges gehören.«69

69
in: Felsenstein/Melchinger, S. 72

Nicht der Vergleich des westdeutschen mit dem ostdeutschen Alltag ist – wie Bachmann unterstellt – hier das Thema, sondern die Grundannahme noch jeder idealistischen Kunstauffassung, dass Kunst die empirische Wirklichkeit überschreite, da sie – wie Schiller es nennt – der Einbildungskraft gehorche und in diesem Sinne frei ist, frei von den Notwendigkeiten der empirischen Wirklichkeit.


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