Einmal diese bewusste Identifizierung von empirischer Wirklichkeit mit dem
DDR-Alltag durchgeführt, gelingt Bachmann die Gegenüberstellung von Felsensteins
Kunst mit der politischen Wirklichkeit, in der er lebt und schafft. Weil Felsenstein Kunst
mache, erhebe er sich über die empirische (= politische) Wirklichkeit der DDR.
Bachmann entdeckt jedoch keine politische Oppositionshaltung Felsensteins gegen die
DDR, sondern stellt fest, dass ein solcher Mann eigentlich gar nicht die Kunst will,
sondern »das Leben will, mag es denn auch ein übersteigertes sein«. Der DDR-Alltag
zwinge den freien Geist in die Sphäre der Kunst. So wird aus dem Willen Felsensteins
zur Kunst der Rückzug aus dem Alltag und damit zusammenfallend eine kritische
Haltung zum ostdeutschen System. Wie sehr sich Bachmanns Urteil über Felsenstein
seiner Beweisabsicht verdankt, soll noch die folgende Bemerkung Felsensteins aus eben
der Passage des Melchinger-Buches klarstellen, das Bachmann zu seinem Beweis
heranzieht:
»Flucht aus dem Alltag klingt so, als wolle man unbedingt von etwas weg, was man nicht mehr mag; es ist aber ebenso denkbar, daß man diesen Alltag durchaus mag und ihn fortzusetzen wünscht, daß man nur darüber hinaus das Bedürfnis hat, etwas zu erlangen, was der Alltag, wie er jetzt ist, nicht zu bieten vermag.«70
Festzuhalten bleibt, dass Felsenstein primär einen künstlerischen Standpunkt eingenommen hat, den man jedoch nicht unbedingt als unpolitisch bezeichnen kann. Seinen Äußerungen und, wie gezeigt werden wird, seinen Stück-Konzeptionen ist durchaus Gesellschaftskritik zu entnehmen, die sich jedoch nicht in den Systemvergleich der beiden damaligen deutschen Staaten einordnen lässt. Seine Themen entnahm Felsenstein dem jeweils zu inszenierenden Stück, dem er sich verpflichtet sah. Dabei war sein Standpunkt den Aufgaben eines aufklärererischen und durchaus idealistischen Theaters verpflichtet. Die DDR ermöglichte ihm die Bedingungen, seine Vorstellungen vom Theater zu verwirklichen, die freilich fernab einer Doktrin des Sozialistischen Realismus und ebenso weit weg von der Abgehobenheit des weltfernen Künstlers lagen. Seine Eingemeindung in den Systemvergleich geschah aus einer vorgefassten Entschiedenheit seitens derjenigen, die dies versuchten. Ihre Gründe fußten nicht in einer sachlichen Betrachtung seiner Inszenierungen.
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