- 36 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (35)Nächste Seite (37) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Einmal diese bewusste Identifizierung von empirischer Wirklichkeit mit dem DDR-Alltag durchgeführt, gelingt Bachmann die Gegenüberstellung von Felsensteins Kunst mit der politischen Wirklichkeit, in der er lebt und schafft. Weil Felsenstein Kunst mache, erhebe er sich über die empirische (= politische) Wirklichkeit der DDR. Bachmann entdeckt jedoch keine politische Oppositionshaltung Felsensteins gegen die DDR, sondern stellt fest, dass ein solcher Mann eigentlich gar nicht die Kunst will, sondern »das Leben will, mag es denn auch ein übersteigertes sein«. Der DDR-Alltag zwinge den freien Geist in die Sphäre der Kunst. So wird aus dem Willen Felsensteins zur Kunst der Rückzug aus dem Alltag und damit zusammenfallend eine kritische Haltung zum ostdeutschen System. Wie sehr sich Bachmanns Urteil über Felsenstein seiner Beweisabsicht verdankt, soll noch die folgende Bemerkung Felsensteins aus eben der Passage des Melchinger-Buches klarstellen, das Bachmann zu seinem Beweis heranzieht:

»Flucht aus dem Alltag klingt so, als wolle man unbedingt von etwas weg, was man nicht mehr mag; es ist aber ebenso denkbar, daß man diesen Alltag durchaus mag und ihn fortzusetzen wünscht, daß man nur darüber hinaus das Bedürfnis hat, etwas zu erlangen, was der Alltag, wie er jetzt ist, nicht zu bieten vermag.«70

70
ebd., S. 73

Festzuhalten bleibt, dass Felsenstein primär einen künstlerischen Standpunkt eingenommen hat, den man jedoch nicht unbedingt als unpolitisch bezeichnen kann. Seinen Äußerungen und, wie gezeigt werden wird, seinen Stück-Konzeptionen ist durchaus Gesellschaftskritik zu entnehmen, die sich jedoch nicht in den Systemvergleich der beiden damaligen deutschen Staaten einordnen lässt. Seine Themen entnahm Felsenstein dem jeweils zu inszenierenden Stück, dem er sich verpflichtet sah. Dabei war sein Standpunkt den Aufgaben eines aufklärererischen und durchaus idealistischen Theaters verpflichtet. Die DDR ermöglichte ihm die Bedingungen, seine Vorstellungen vom Theater zu verwirklichen, die freilich fernab einer Doktrin des Sozialistischen Realismus und ebenso weit weg von der Abgehobenheit des weltfernen Künstlers lagen. Seine Eingemeindung in den Systemvergleich geschah aus einer vorgefassten Entschiedenheit seitens derjenigen, die dies versuchten. Ihre Gründe fußten nicht in einer sachlichen Betrachtung seiner Inszenierungen.


Erste Seite (i) Vorherige Seite (35)Nächste Seite (37) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 36 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch