- 33 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Entpolitisierung und damit die Entdeckung ewiger, apolitischer Wahrheiten in den westdeutschen Rezensionen entgegen.62
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Ein Paradebeispiel dafür liefert G. Rühles Position zu Felsensteins Inszenierung von Mozarts ›Zauberflöte‹: »Es spricht für Felsensteins künstlerischen Ernst und seine echte Bindung an die Musik, daß er selbst sich mit der bloß textkritisch-politischen Interpretation, zu der ihn die intensive Beschäftigung mit den Libretti verführt [Hervorhebung R. H.] hatte, nicht zufriedengab. In den besten und reifsten Inszenierungen – Verdis ›Falstaff‹ und Mozarts ›Zauberflöte‹ – stieß seine Gestaltung zu jenen künstlerischen Höhen vor, auf denen sich die musikdramatische Aussage erst in ihrem ganzen Reichtum zu erschließen vermag.« In Rühle, Günther: Das gefesselte Theater, Kiepenheuer/Witsch, Köln, Berlin 1957; S. 268
Dass beide Standpunkte fündig werden, liegt daran, dass Felsensteins Kunstauffassung fest im klassischen Idealismus der Aufklärung verankert ist, auf der – wie gezeigt – beide Standpunkte gleichermaßen fußen.

Über die inhaltliche Beschäftigung mit seiner Kunst hinaus ist Felsenstein allerdings ein Politikum gewesen. Jegliche Betrachtung der beiden existierenden politischen Systeme wurde unter der Voraussetzung des Systemvergleichs angestellt. Die Beweisführung der Leistungsfähigkeit des real existierenden Sozialismus gerade auch im westlichen Ausland wird einerseits eine Rolle dabei gespielt haben, sich die Existenz eines Institutes wie die Komische Oper Berlin zu leisten

Andererseits wurde Felsenstein spätestens seit dem Mauerbau von der westlichen Presse ebenso als Politikum behandelt. Besonders deutlich wird diese Behandlung am Skandal, der anlässlich Felsensteins Rigoletto-Inszenierung an der Hamburgischen Staatsoper (fast) geschehen wäre. Die Bild-Zeitung hatte den 4. Rang zu lautstarken Protesten aufgerufen:

»Wir haben Felsenstein aufgefordert, sich zu entscheiden, ob er ein Mauerstein des Ostens oder ein Felsenstein bei uns werden will.«63

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zit. nach Kobán, Ilse (Hrsg.): Walter Felsenstein. Die Pflicht, die Wahrheit zu finden, Frankfurt/Main 1997

Zwar wurde der Skandal durch den Hamburger Intendanten Rolf Liebermann und die seriöse Presse verhindert, aber den prinzipiellen Standpunkt der Bild-Zeitung durchzieht fast jede – auch seriöse – Kritik der Hamburger Aufführung. Das westliche Interesse an Felsenstein spricht Harald Gillen im Stader Tagesblatt vom 15.5.62 aus:

»Der Österreicher Felsenstein, Intendant der Ostberliner Komischen Oper, der zur Zeit besten sowjetzonalen Bühne, Aushängeschild Ullbrichts, aber – das ist wichtiger – einer der letzten unabhängigen Geister jenseits der Mauer – ließ seine intensiv formende Hand in jedem Detail spüren [...].«64

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Gillen, Harald in: Stader Tagesblatt v. 15.5.62; zit nach SdAK, Walter Felsenstein-Archiv Nr. 528

Die Tatsache, dass Felsenstein überhaupt noch in der DDR arbeitete, stellte das Politikum dar. Dass Felsenstein in seinen Äußerungen über die DDR immer sehr zurückhaltend blieb, bedeutete für den westdeutschen Standpunkt, dass »einer der letzten unabhängigen Geister jenseits der Mauer« es unmöglich im Real existierenden Sozialismus aushalten könne. Dies war Felsensteins künstlerischer Arbeit jedoch keineswegs anzumerken. Es wurde einerseits bewusst von der künstlerischen Potenz Felsensteins abgesehen, die stand außer Frage. Andererseits wurde genau


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