- 32 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (31)Nächste Seite (33) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

sucht er sein Glück und will es halten: reine Liebe, unbefleckte Innigkeit sollen ihm gleichsam ersetzen, was er professionell zerbricht. [...] Raubtierhafte Frivolität des Herzogs [...]. [...] Ja, selbst der Mörder mit dem Ehrenkodex, Sparafucile, oder die engelsreine, aber doch unaufrichtige Tochter namens Gilda. Sie alle müßten sich aus der Konventionalität des Librettos erlösen lassen.«60
60
Kaiser, Joachim in: Süddeutsche Zeitung vom 15.5.62; zit. nach. SdAK, Walter Felsenstein Archiv Nr. 528

Auch hier lautet der das Stück bestimmende Gegensatz nicht Feudalismus – Humanität, sondern »privater Bezirk« und »professionell«. Aus diesem Widerspruch resultiert ein »schizophrener« Rigoletto, ein pathologischer Fall. Der Herzog vollzieht nicht das Selbstverständnis seines Standes, sondern wird zum »Raubtier«, Gilda zur »Engelsreinen«. Monströse Figuren, pathologische Gestalten und Ikonen vollziehen hier die Stückhandlung: dramatis personae, die neben jedwedem konkreten Interesse stehen.

Insofern hat J. Kaiser folgerichtig weder eine Kritik am Feudalismus noch ein humanistisches Plädoyer in Felsensteins Inszenierung gesehen, sondern:

»Der Regisseur Felsenstein war nämlich einen anderen Weg gegangen: Er bot keine individualisierende Aufführung, sondern eine balladeske. [...] Felsensteins Versuch, eine Mörderballade abrollen zu lassen, einen Kriminalfall mit bösem Ausgang darzustellen [...].«61

61
ebd.

Indem die Stückhandlung zum Kriminalfall wird, sind grundsätzliche politische Aussagen getilgt. Die handelnden Personen sind zwar durch eine ihnen vorgegebene Ordnung motiviert, jedoch nur in dem Sinn, dass sie ihre Interessen als private auf eine ihnen vorausgesetzte Ordnung beziehen. Über diese Ordnung würde innerhalb dieser Konstruktion nichts gesagt sein, sie stellt nur den Maßstab der Kriminalität der Handlungen dar. Es kämen nurmehr »abwegige Charaktere« (Horst Seeger) zur Darstellung. Movens der Handlung und deren Interessantheit bestünde in eben ihrer Abweichung von einer vorausgesetzten Ordnung, deren Besonderheiten im Dunkeln blieben. Eine politische Aussage über jene mysteriöse Ordnung sowie den in der Stückhandlung vorkommenden Interessen – abgesehen von dem Grad ihrer Abweichung von der Ordnung – wäre dementsprechend ausgeschlossen.

Der den Wert des Kunstwerkes verbürgenden Kategorie der Wahrheit, die durch die treffende Zeichnung der historisch-gesellschaftlichen Bestimmtheit der Charaktere erlangt werde, steht die Kategorie der Interessantheit der dramatis personae entgegen, welche gerade durch die Abgewandtheit der handelnden Personen von der konkreten Wirklichkeit bis hin zu extremen sie charakterisierenden – mithin pathologischen – Zuständen entstünde. Solche Personenzeichnungen beanspruchen zwar ebenso die Kategorie der Wahrheit für sich, jedoch wird sich hierbei auf die Erkenntnis zeitloser anthropologischer Konstanten, die den Menschen bestimmen, bezogen, wogegen die politischen Zustände, in denen ein Mensch lebt, als äußerlich und sekundär für seine Handlungen angesehen werden.

Insofern liefert also der vorgefasste Standpunkt der Rezensenten den Grund für die unterschiedlichen Betrachtungen Felsensteinscher Inszenierungen: Der politischen Interessiertheit ostdeutscher Rezensionen steht das Interesse an gerade ihrer


Erste Seite (i) Vorherige Seite (31)Nächste Seite (33) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 32 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch