2.1.4. Felsensteins Verhältnis zum Sozialistischen Realismus
Fraglich ist nun, wie das Verhältnis dieser Kunstauffassung zum Sozialistischen
Realismus beschaffen ist. Es soll gezeigt werden, dass der Sozialistische Realismus
durchaus nicht im Gegensatz zur Kunsttheorie des klassischen Idealismus steht, sondern
vielmehr auf ihm fußt – freilich unter dem Blickwinkel der ideologischen Umerziehung im
Sinne des real-existierenden Sozialismus.
Der Sozialistische Realismus ist eine normative Ästhetik, die aus der
»historisch–materialistischen Weltanschauung« entwickelt wurde. Diese
Weltanschauung fasst den Sozialismus auf als eine Gesellschaftsform,
die sich notwendig aus dem Walten eines geschichtlichen Prozesses
ergebe.43
»Für die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus ist [. . . ] nicht nur der wirkliche Mensch,
das Individuum, der Ausgangspunkt der Geschichtsbetrachtung, sondern die Geschichte
selber ein Prozeß, der zu einer umfassenden Entfaltung des wirklichen konkreten Menschen
führt.« Schumacher I, S. 172, zit. nach Kobel, Jan: Kritik als Genuss. Über die Widersprüche
der Brechtschen Theatertheorie und die Unfähigkeit der Literaturwissenschaft, sie zu
kritisieren, Verlag P. Lang, Frankfurt/Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien, 1992, S. 59
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Die historische Aufgabe des Sozialismus bestehe darin, das Ideal des klassischen
deutschen Idealismus – dass der Mensch sein individuelles Wollen aus Einsicht in die
Notwendigkeit eines allgemeinen Zweckes aufgebe und dadurch »frei« werde – zu
verwirklichen,44
»Die Entwicklung des Menschen zur sozialistischen Persönlichkeit kann nur mit der
Gemeinschaft und durch diese geschehen. Die Tätigkeit des einzelnen zum Nutzen der
Gesellschaft erlaubt es dieser erst, alle Bedingungen zur Entfaltung der Persönlichkeit
zu schaffen. Im Sozialismus werden die besten Gedanken und Erkenntnisse der großen
humanistischen Denker der Vergangenheit fortgebildet und verwirklicht.« In Kleines
Politisches Wörterbuch, Dietz Verlag, Berlin 1973, S. 648
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einen »Realen
Humanismus« zu errichten.45
Der Kapitalismus habe »aufgehört, für die Humanisierung des Menschen und der Menschheit
produktiv zu sein«, weshalb er es »verdiene, von der Arbeiterschaft beseitigt zu werden«.
Schumacher II, S. 117, nach Kobel S. 55
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Daraus ergibt sich für die Kunst die Aufgabe, zu diesem sittlich begründeten Willen zum
Sozialismus zu erziehen.
Da der Sozialismus, so verstanden, nicht in einem materiellen Interesse begründet ist, sondern
die Beseitigung des Kapitalismus sich der Verwirklichung des humanistischen Ideals und
letztendlich einem ›Geschichtsprozess‹ verdankt, der Geschichte als ihr eigenes Subjekt auftreten
lässt,46
Den Irrtum des ›Wissenschaftlichen Sozialismus‹ kritisiert M.Buestrich, wenn er bemerkt:
»Gegen den dieser Aussage zugrundeliegenden Geschichtsbegriff ist einzuwenden, daß die
Geschichte ebensowenig wie die Natur ein mit Willen und Bewußtsein ausgestattetes Subjekt
darstellt, daß etwas ›einlöst‹, ›verlangt‹, oder gar ›befiehlt‹.« In: Buestrich, Michael: Die
Verabschiedung eines Systems: Funktionsweise, Krise und Reform der Wirtschaft im Realen
Sozialismus am Beispiel der Sowjetunion, Münster, New York: Waxmann, 1995; S. 62. Zur
ausführlichen Kritik der Grundlagen vgl. auch in: ders. S. 62–79
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wird von der Kunst gefordert, diesen Geschichtsprozess aufzuzeigen. Das dürfe jedoch nicht
explizit geschehen, die handelnden Personen sollen nicht Sprachhülsen für aufgesagte Lehren
sein, sondern wirkliche Individuen. Dies ist nötig, um den Zuschauer Anteil nehmen zu
lassen an den dargestellten Menschen. Nur so könne die Aufgabe erfüllt werden, die »ein
bewußtseinsbildendes, bewegende Wahrheiten aussprechendes sozialistisches
Theater«47
Stompor, Stephan: Weniger Routine – mehr schöpferische Arbeit, in: Theater der Zeit 2/59
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hat.
Bewusstseinsbildend und bewegend soll das Theater sein. Die gleichen
wirkungsästhetischen Qualitäten sind sowohl von der Schillerschen Schaubühne wie vom
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