- 20 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (19)Nächste Seite (21) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Die Glaubhaftigkeit der Handlung ist dazu nötig, dass die Möglichkeit des moralischen Handelns, des Sieges über sein empirisches Selbst, durch die Handlung des Helden vermittelt wird. Weil eine solche heldenhafte Handlung in unserer alltäglichen Wirklichkeit gemeinhin nicht vorkommt, muss sie gerade wegen ihres fiktionalen Charakters als Bühnenhandlung angesichts unserer empirischen Wirklichkeit vorkommen können. Ebenso soll die Wahrhaftigkeit einer Aussage auf der Bühne die Echtheit des zum Ausdruck gebrachten Gefühls verbürgen – angesichts der eigentlichen Künstlichkeit als wochenlang geprobte schauspielerische Handlung.

Beide Begriffe rekurrieren auf ein Modell, das von der Kunst verlangt, nach dem ›Leben‹ geschaffen zu sein. Dadurch öffnet sich Kunst der Kategorie der Wahrheit, indem als Bezugsfeld der Kunst die Wirklichkeit genommen wird. Diese fungiert gleichzeitig als Gegenstand der Kunst, wie als Instanz, an der ihre künstlerische Darstellung überprüft werden kann. Sinnvoll wird ein solches Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, wenn es als Aufgabe von Kunst erachtet wird, Erkenntnisse über die Wirklichkeit zu vermitteln. Erkenntnisse jedoch nicht im praktischen oder wissenschaftlichen Sinn, sondern darüber, dass Ethik und Moral angesichts einer mangelhaften empirischen Wirklichkeit möglich und nötig seien. Dieser wirkungsästhetische Anspruch Felsensteins kommt dem Kunstbegriff des klassischen Idealismus sehr nahe. Ausgangspunkt von Felsenstein ist ein Menschenbild, dass den Menschen als doppelt bestimmten kennt: als sinnlichem Wesen und gleichzeitig vernunftbegabtem ist ihm das Reich der Idealität zugänglich.

Um zu zeigen, wie genau Felsensteins Ansichten mit dem humanistischen Menschenbild und seiner Darstellung in der Kunst übereinstimmen, sei dieses beispielhaft an Schillers Aufsatz »Über das Pathetische«24

24
Schiller, Friedrich: Über das Pathetische, in: ders.: Sämtliche Werke, 5. Band, S. 512ff., Carl Hanser-Verlag, München, 1975
entfaltet: Schiller erläutert die Differenz von ästhetischem und moralischem Sinn an deren unterschiedlichen Empfindungen:

»Meinen moralischen Sinn (die Vernunft) befriedigt diese Handlung, meinen ästhetischen Sinn (die Einbildungskraft) entzückt sie.«25

25
ebd., S. 529

Er leitet diesen Unterschied aus der Bestimmung des Menschen, Vernunft- und Sinnenwesen zu sein, ab. Die Vernunft fordert, sie verlangt ihren Anspruch (Resultat: Beifall), das Sinnenwesen hat Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen (Resultat: Lust). Dass Lust oder Beifall eintreten ist zufällig, d. h., der Vernunft und den Sinnen äußerlich. Um befriedigt zu werden, müssen Vernunft- wie Sinnenwesen auf etwas in der Welt befindliches (ihnen äußerliches) treffen, das aber mit ihren notwendigen Bestimmungen – bei der Vernunft ein Imperativ, bei den Sinnen »Notdurft« – übereinstimmt.

In der moralischen Beurteilung trifft der moralische Imperativ auf einen »freien Willen«. Obwohl Schiller behauptet, dass »eine unbedingte Nezessität vorhanden [ist], daß wir wollen, was recht ist«,26

26
ebd.
wird durch den Gebrauch der Freiheit des Willens die Befriedigung des moralischen Sinns zufällig.


Erste Seite (i) Vorherige Seite (19)Nächste Seite (21) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 20 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch