Die Glaubhaftigkeit der Handlung ist dazu nötig, dass die Möglichkeit des
moralischen Handelns, des Sieges über sein empirisches Selbst, durch die Handlung
des Helden vermittelt wird. Weil eine solche heldenhafte Handlung in unserer
alltäglichen Wirklichkeit gemeinhin nicht vorkommt, muss sie gerade wegen ihres
fiktionalen Charakters als Bühnenhandlung angesichts unserer empirischen
Wirklichkeit vorkommen können. Ebenso soll die Wahrhaftigkeit einer Aussage auf
der Bühne die Echtheit des zum Ausdruck gebrachten Gefühls verbürgen –
angesichts der eigentlichen Künstlichkeit als wochenlang geprobte schauspielerische
Handlung.
Beide Begriffe rekurrieren auf ein Modell, das von der Kunst verlangt, nach dem ›Leben‹ geschaffen zu sein. Dadurch öffnet sich Kunst der Kategorie der Wahrheit, indem als Bezugsfeld der Kunst die Wirklichkeit genommen wird. Diese fungiert gleichzeitig als Gegenstand der Kunst, wie als Instanz, an der ihre künstlerische Darstellung überprüft werden kann. Sinnvoll wird ein solches Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, wenn es als Aufgabe von Kunst erachtet wird, Erkenntnisse über die Wirklichkeit zu vermitteln. Erkenntnisse jedoch nicht im praktischen oder wissenschaftlichen Sinn, sondern darüber, dass Ethik und Moral angesichts einer mangelhaften empirischen Wirklichkeit möglich und nötig seien. Dieser wirkungsästhetische Anspruch Felsensteins kommt dem Kunstbegriff des klassischen Idealismus sehr nahe. Ausgangspunkt von Felsenstein ist ein Menschenbild, dass den Menschen als doppelt bestimmten kennt: als sinnlichem Wesen und gleichzeitig vernunftbegabtem ist ihm das Reich der Idealität zugänglich. Um zu zeigen, wie genau Felsensteins Ansichten mit dem humanistischen Menschenbild und seiner Darstellung in der Kunst übereinstimmen, sei dieses beispielhaft an Schillers Aufsatz »Über das Pathetische«24
»Meinen moralischen Sinn (die Vernunft) befriedigt diese Handlung, meinen ästhetischen Sinn (die Einbildungskraft) entzückt sie.«25
Er leitet diesen Unterschied aus der Bestimmung des Menschen, Vernunft- und Sinnenwesen zu sein, ab. Die Vernunft fordert, sie verlangt ihren Anspruch (Resultat: Beifall), das Sinnenwesen hat Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen (Resultat: Lust). Dass Lust oder Beifall eintreten ist zufällig, d. h., der Vernunft und den Sinnen äußerlich. Um befriedigt zu werden, müssen Vernunft- wie Sinnenwesen auf etwas in der Welt befindliches (ihnen äußerliches) treffen, das aber mit ihren notwendigen Bestimmungen – bei der Vernunft ein Imperativ, bei den Sinnen »Notdurft« – übereinstimmt. In der moralischen Beurteilung trifft der moralische Imperativ auf einen »freien Willen«. Obwohl Schiller behauptet, dass »eine unbedingte Nezessität vorhanden [ist], daß wir wollen, was recht ist«,26
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