- 19 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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vergessen, dass Theater gespielt werde, jedoch eben nicht zugunsten passiver Hingabe, sondern dadurch, dass er mitspiele:

»Wir [Zuschauer und Darsteller] spielen zusammen, dadurch hört mein Dasein als Zuschauer auf und ebenso sein Dasein als Schauspieler, mein Wissen vom Spiel ist verschwunden, und ich empfinde das Geschehen wahrer als jede Wirklichkeit.«20

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ebd., S. 87

Die Wahrheit eines Geschehens, die, wenn das Geschehen in unserer empirischen Wirklichkeit passiert, für uns im Unklaren bleibt, lasse uns dagegen das Theater empfinden. »Wahrheit empfinden« scheint ein kategorialer Widerspruch zu sein. Die durch eine Empfindung vermittelte Erkenntnis einer Wahrheit lässt jedoch einen Rückschlusss auf die Spezifik dieser Erkenntnis zu. Mit Erkenntnissen sind keine praktischen oder wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern die innere Teilnahme an einer moralischen Handlung gemeint.

Um die Verschmelzung von Bühne und Zuschauerraum zu bewirken, muss Theater aufhören, in seiner Künstlichkeit erkennbar zu sein. Dem Bühnenvorgang muss vom Zuschauer eine größtmögliche Realität zugesprochen werden, damit der Zuschauer die inneren Entwicklungen der Bühnenfiguren miterlebt, die sich, wie gezeigt, über ihr sinnliches Selbst erheben. Um diesen Anspruch zu erfüllen, benötigt das Theater eine Nähe zum Publikum. Grundlegende Begriffe in Felsensteins Theaterauffassung,21

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Die in Felsensteins theoretischen Schriften und Reden an vielen Stellen zentral auftauchende Äußerung lautet folgendermaßen: »Es [das wirkliche musikalische Theatererlebnis] kommt nur zustande, wenn Musik und Gesang in einer dramatischen Funktion richtig erkannt und konsequent eingesetzt werden. Diese Funktion kann nur sein: eine Handlung musizierend und singend zu einer theatralischen Realität und vorbehaltlosen Glaubhaftigkeit zu bringen. Das Musizieren und Singen auf der Bühne zu einer überzeugenden, wahrhaftigen und unentbehrlichen menschlichen Äußerung zu machen ist die Kardinalfrage.« Das erste Mal taucht diese Bestimmung 1957 in Felsensteins Referat: »Die Operninszenierung« auf. Felsenstein, Schriften,S. 69
nämlich »Glaubhaftigkeit« und »Wahrhaftigkeit« sollen diese Nähe verbürgen, wie Felsensteins langjähriger Dramaturg an der Komischen Oper klarstellt:

»Es [das Attribut der Glaubhaftigkeit] sichert, genau besehen, das lebensnotwendige Wechselspiel zwischen Bühne und Publikum, erklärt, daß die Bühne nur in der Beziehung auf das Einverständnis eines bestimmten Publikums Wahrhaftigkeit und Realität gewinnen kann.«22

22
Seeger, Horst: Wahrheit und Erkenntnis. Zu Walter Felsensteins Opernästhetik, in: Theater der Zeit 5/1971

Der Begriff der »Wahrhaftigkeit« betont in der Nähe zum Publikum eher das Moment der Erkenntnis:

»Wahrhaftigkeit in den Rahmen der theatralen Totalität gestellt, die Felsenstein erstrebt und lehrt, [...] unterstreicht methodisch bereits die »Erkenntnis«-Problematik.«23

23
ebd.


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