- 18 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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nach einem dichothomischen Menschenbild geschaffen: Der Mensch wurzelt als fühlender Mensch in der Welt der Sinnlichkeit. »Menschliche Grundgefühle« gehören der sinnlichen Seite des Menschen an. In einen solchen Zustand des Fühlens von Liebe, Leid, Schmerz, etc. sind die Kunstfiguren im Verlaufe einer Stückhandlung versetzt. Sie bleiben jedoch nicht in ihrer Sinnlichkeit befangen, sondern »setzen sich mit ihrem Zustand auseinander«, dass heißt, sie verfolgen ihre Zwecke zwar angesichts ihres Gefühlszustandes, setzen sich aber bei den Entscheidungen für ihr jeweiliges Handeln über ihren sinnlich bestimmten Zustand hinweg. Sie müssen nicht der Beschränktheit, die ihnen ihr Begehren als reines Sinnenwesen aufgäbe, gehorchen, sondern können sich gegen ihr vermeintliches konkretes Interesse wenden. Dadurch haben sich die handelnden Personen von ihrer sinnlichen Seite emanzipiert, sie kennen andere Gründe für ihr Handeln, andere Zwecke. Ihre zweite – und wesentliche – Seite ist ihre Vernunftbestimmtheit. Diese lässt sie nicht ihrer Sinnlichkeit gehorchen, sondern um höhere, ethische Werte wissen. Denn der vernünftig handelnde Mensch handelt gut, nämlich gut im Sinne einer vorausgesetzten Moralvorstellung.

Die Moralität des Handelns hat Felsenstein im Auge, wenn er von »einer neuen Stufe der menschlicher Ethik und Moral« spricht. Dass nicht nur die sinnliche Befriedigung, sondern vor allem das Wissen um das, was gut ist – also moralische Werte – für das menschliche Handeln kausal werden, soll die Kunst zeigen. Felsensteins Kunstauffassung liegt das klassische humanistische Menschenbild zugrunde, nach dem der Mensch, als Sinnenwesen in seinen Trieben befangen, nur seinen partiellen, egoistischen Interessen nachgeht, während er als Vernunftwesen seine empirische Natur übersteigt und die höhere Welt der Idealität zum Ausgangspunkt seiner Handlungen zu machen in der Lage ist.

Dazu bedarf es jedoch der Erziehung und einen erzieherischen Zweck schreibt Felsenstein der Wirkung seiner Kunst zu, wenn die Helden in der Kunst eine »neue Stufe menschlicher Ethik und Moral« erkämpfen. Der Rezeptionsakt einer solchen Kunst soll sich keineswegs auf den rein intellektuellen Nachvollzug beschränken. Notwendig für die geforderte Wirkung der Kunst ist es, den Zuschauer mit seiner ganzen Sinnlichkeit einzubeziehen, seine Einbildungskraft zu aktivieren. Der Zuschauer sollte sich möglichst mit den Helden auf der Bühne identifizieren.

Genauso lautet auch Felsensteins Anspruch an das Theater, ein »echtes Theatererlebnis« zu ermöglichen, das auf eine größtmögliche Identität von Bühne und Zuschauerraum abzielt. Eine Identität, die nicht durch die naturalistische Nachahmung alltäglicher Wirklichkeit erzielt wird, sondern durch die verständliche, Teilnahme erregende Darstellung einer Handlung, deren Idealität sichtbar wird. Die Bühnenvorgänge müssten dem Zuschauer etwas über seine Welt sagen, »das eigene Leben berühren«, ohne jedoch bei der Abbildung von alltäglicher Wirklichkeit stehen zu bleiben, sondern eine poetische Wirklichkeit darstellen, die die handelnden Personen dadurch, dass sie moralisch gut handeln, zu Helden werden lässt.

Ein wesentliches Ziel dieses Theaters ist es, die mitfühlende Teilnahme am Schicksal dieser Helden zu bewirken. Die Teilnahme an der heldenhaften, moralischen Handlung vermittelt dem Zuschauer die Erkenntnis, dass gutes Handeln möglich und nötig ist. Nachdem der Zuschauer »vom Theater gepackt, zumindest ergriffen«19

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ebd., S. 86
wird, soll er an der Handlung, die ihn mitriss, lernen. Zwar solle der Zuschauer

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