- 160 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Sinne Erotischen, sondern verweist auf eine Instanz des Natürlich-Kreatürlichen. Die Wünsche dieser Figuren sind geboren aus ihrer Innerlichkeit als Naturwesen. Aus dieser Herkunft beziehen sie ihre höhere Legitimation. Bestritten wird ihr Interesse durch eine unmenschliche Gesellschaft, die jeweils verschiedene Züge des Degenerierten und Deformierten trägt.

Während in seinen anderen Inszenierungen eine weibliche Figur die Trägerin natürlicher Emotion ist, welche sie über die jeweilige Gesellschaft hinausweisen lässt, reflektiert Felsenstein in seinem ›Hoffmann‹ den Künstler, dessen poetischer Blick auf die entseelte Wirklichkeit es ermöglicht, jener wieder Leben einzuhauchen, und zwar durch die Liebe. Die Transzendenz der Kunst ist hier das Thema. Die Ebene der Reflexion von Kunst und Leben ist auch in seinem ›Blaubart‹ angeschnitten, doch reflektiert er hier durchaus kritisch die Möglichkeiten der Kunst zur Transzendenz einer schrecklichen Welt. Die Schrecken der Welt werden dadurch angeklagt, dass Kunst gewissermaßen an ihrem happy-end scheitert. Trotzdem lassen sich, betrachtet man gerade die beiden Offenbach-Arbeiten Felsensteins zusammen, auffällige Bezüge herstellen: Während sein Hoffmann in der Apotheose des Künstlers endet, der, indem er sich durch die Kunst über sein persönliches Schicksal erhebt und die Liebe als Kraft des Lebens und der Poesie entdeckt, durchweg positive Qualitäten der Kunst verkörpert, trägt die Parodie auf das happy-end im ›Blaubart‹ einen resignativen Zug. Angesichts der Vorgänge einer solchen Wirklichkeit bleibt nur eine Lösung: Theaterspielen. Angesichts dessen, dass gerade die von Bobèche und Blaubart vermeintlich Ermordeten das Material für das glückliche Ende auf dem Theater bilden – sie werden gegenseitig verheiratet – und sich die Hauptfigur Boulotte, als Verkörperung des Lebens (!), letztlich widerwillig fügt, entbehrt ein solcher Schluss nicht eines gewissen Sarkasmus’ des Künstlers.

Die Idee, die Felsenstein mit dem »musizierenden Theater« verfolgt, beruht auf einer geschichtsphilosophischen Konstruktion: In einer rationalisierten Welt, die den Menschen von seiner eigenen Natur entfremdet, könne das Theater noch ein Erlebnis des »Elementaren«, des »Ursprünglichen« ermöglichen. Die verlorengegangene Einheit des Theaters zugunsten der Aufsplitterung in verschiedene Gattungen vollzieht Felsenstein nicht nach. Gerade in der Rückwendung zu einem universelleren Theater sieht er den Weg, dass »Elementare« zu äußern.11

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aus einem Gespräch mit Manfred Koerth 1971:

»W.F.: [. . . ] Ein Musikempfinden, eine körperliche Begabung, die zumindest einer tänzerischen Ausbildung fähig wäre, setze ich bei jedem Schauspieler voraus.
M.K.: So daß sich einem an diesem Punkt auch der Eindruck aufdrängt, daß im Musiktheater in einem sehr hohen Begriff doch eine Kulmination, eine Synthese der darstellenden Mittel und Möglichkeiten stattfindet . . .
W.F.: [. . . ] die manchmal im Schauspiel versäumt wird. Denn gegeben ist sie auch im Schauspiel, nur mit dem Unterschied, daß dort kein Orchester spielt. Musik ist nicht immer Vokalfolge, ist nicht immer Melodie, ist nicht immer vorgeschriebene Harmonie und Rhythmus – Musik ist etwas, das im Wesen des menschlichen Ausdrucks liegt, ob mit oder ohne Sprache. Ich fasse den Begriff sehr weit.« ebd., S. 490f.

Dazu müsse es ein »echtes Theatererlebnis« ermöglichen. Geschieht Theater dann wirklichkeitsüberschreitend, so eröffnet es die Möglichkeit von Erkenntnis, nämlich über das verkümmerte Naturwesen Mensch. Insbesondere das Musiktheater sei dazu geeignet, den Menschen das »Elementare« wieder näher zu bringen, da sein wesentliches Medium die Musik ist. In einer durch »Wissenschaft und ratio« geprägten Welt sind in der

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