- 161 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Musik Spuren einer Sprache aufbewahrt, die die entfremdete menschliche Natur ausdrücken könne. Wortsprache ist in diesem Weltbild der nüchternen, rationalisierten Wirklichkeit zugeordnet. Da das Musiktheater wesentlich von der Musik geprägt ist, ohne unkonkret zu sein, kann es den Menschen zu seiner verschütteten ›eigentlichen‹ Natur führen und eben dadurch ein »Instrument der Erkenntnis« sein, ohne die rationalistische Verkürzung des Menschen mitzuvollziehen. Gerade aus der scheinbaren Unvermittelbarkeit der Kunstform Oper mit der modernen Wirklichkeit ergibt sich der unbedingte Anspruch für ein »musizierendes Theater«, eben diese Vermittlung zu leisten. Abgeleitet aus den Beschädigungen der menschlichen Natur in der modernen Welt könne Musiktheater dann zu einem der »maßgebendsten, sensibelsten und umfangreichsten Instrumente der menschlichen Äußerung« werden.

Die vorliegende Arbeit leistet einen Rückblick auf Felsenstein als denjenigen, der realistisches Musiktheater im 20. Jahrhundert entscheidend geprägt hat. Auf dieser Grundlage könnten Kontinuität und vor allem Modifikationen und Brüche mit Felsensteins Theaterverständnis bei, sich zumindest zeitweilig als Schüler Felsensteins verstehenden, Regisseuren wie Götz Friedrich und Joachim Herz aufgezeigt werden. Die Integration im weitesten Sinne Brechtscher Tendenzen in eine Stückauffassung, die von Felsensteins Verpflichtung gegenüber einer im 19. Jahrhundert wurzelnden Ästhetik der Oper geprägt ist, wäre dabei nachzuzeichnen.

Weiterhin könnten neuere Regie-Tendenzen, die sich als realistische verstehen (beispielsweise Luc Bondy, Peter Konwitschny, Peter Sellars,) auf ihre historischen Wurzeln hin untersucht werden. Ebenso wäre es lohnend, aufzuzeigen, inwiefern sogar höchst artifiziell inszenierende Regisseure wie etwa Peter Mussbach auf eben jenen Handlungsbegriff rekurrieren, indem sie mit den Kategorien der Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit in autonomen Kunstwelten spielen. Der jeweilige Bezug von Musik und Szene würde mittels des Handlungsbegriffs erhellt werden können – auch wenn dabei vielleicht der Abstand der Inszenierung zur Musik deutlich werden würde. Insofern wäre der Begriff der »musikalischen Handlung« durchaus als vielfältiges Beschreibungskriterium für Theateraufführungen zu entfalten.

Eine Inszenierung, die sich ihrem Stück gegenüber verpflichtet sieht, indem sie zumindest noch die gegebene Objektivität eines Stückes gelten lässt, steht vor der Notwendigkeit einer Stückanalyse, wie auch immer das Stück dann realisiert wird. In praktisch-methodischer Hinsicht sowohl in der wissenschaftlichen als auch der künstlerischen Beschäftigung wurde aufgezeigt, inwiefern Felsensteins Ansatz Grundbegriffe für eine Werk- und auch eine Inszenierungsanalyse bietet. Es ist in dieser Arbeit deutlich geworden, dass die Frage nach dem Anlass von Musik einen wertvollen Beitrag zu einer Beschäftigung mit der Oper leistet, wenn sie versucht, die Oper als Musik und Szene integrierende Kunstform zu verstehen. Felsensteins Begriff der »musikalischen Handlung«, für deren Analyse eben der Begriff des Anlasses von Musik zentral ist, zielt auf die szenische Gestalt ab, die in einer Partitur fixiert ist. Mit diesem Begriff wäre ein Instrument gewonnen, die szenische Gestalt als Intention der Partitur zum Gegenstand der Analyse zu machen. Deswegen verdankt sich Felsensteins analytisch-schöpferische Tätigkeit dem Phänomen, dass das Kunstwerk Oper zwar als Partitur existent aber noch nicht realisiert ist.


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