- 159 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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»Der Mensch ist am einsamsten in den Erlebnissen und Empfindungen, an welche die Wissenschaft und Ratio nicht heranreichen, in denen er sich in seiner Sprache auch niemandem mitteilen kann. Es ist die vornehmste Aufgabe der Kunst – und in ihr am ehesten der Musik – , den Menschen in diesen Bereichen von seiner Einsamkeit zu erlösen, die Menschen miteinander zu verbinden und sie an ihre Gemeinsamkeit glauben zu lassen.«7
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ebd., S. 427

Musik erlaube menschliche Äußerungen, die nur dort, im Musiktheater noch möglich seien. Dass sie noch dort möglich seien, weist auf einen tiefen zivilisationskritischen Kern in Felsensteins Theaterauffassung hin: »Der moderne Mensch hat die Beziehung zum Ursprünglichen verloren. Er ist in einer geheimnislosen Zivilisation erstarrt. Aber eine unbestimmte Sehnsucht ist in ihm übriggeblieben. Sie kann sich in der Kunst erfüllen. Wenn er im Theater die Wiederherstellung des Elementaren erlebt, findet er das Elementare in sich selber wieder. Das ist die einzige konkrete Auslegung der humanistischen Aufgabe des Theaters.«8

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ebd., S. 102

Kunst fungiert hier als die Gegenwelt zur »geheimnislosen Zivilisation«, in der es möglich wird, die eigentliche menschliche Natur zu restituieren. Die »unbestimmte Sehnsucht«, das »Elementare« zu erleben, treibe Menschen zum Theater, ob als Darsteller oder als Zuschauer. Musik reiche bei dieser Suche nach dem »Ursprünglichen« am tiefsten in die Bereiche, die für Sprache, für »Ratio und Wissenschaft« unzugänglich sind, hinein. »Noch im kunstvollsten Duett [als dialogisierter Gesang im Vergleich zur Arie ein der Sprache noch näherstehendes Beispiel musiktheatralischer Ausdrucksform] ist jene Steigerung ins Ursprüngliche mitenthalten, die allein Gesang auf der Bühne möglich macht.«9

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ebd., S. 103

Gesang, dem »Elementaren« zumindest sehr nahekommend, sei jedoch kein unmittelbarer Ausdruck des Unbewussten. »Das Elementare ist kein wilder Ausdruckstrieb. Wenn auf der einen Seite Gesang nicht entstehen kann, solange die alltägliche Nüchternheit nicht verlassen wird und der Wunsch nach gesteigertem Ausdruck nicht übermächtig wird, so entsteht er andererseits niemals, ohne sich in Form zu ergießen. Der Ausdruckstrieb paart sich mit dem Gestaltungstrieb.«10

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ebd., S. 102

Die Konzeptionen seiner Filme machen deutlicher, woran Felsenstein hierbei denkt: Als roter Faden durchzieht insbesondere die Opposition von rationaler und emotionaler Welt viele seiner Inszenierungen. Es lassen sich durchaus Grundzüge feststellen: Eine (weibliche) Figur, die von Eros beseelt ist (Violetta, Boulotte, Füchslein), trifft auf eine destruktive Gesellschaftlichkeit ihrer Gegenspieler (was insbesondere in den Chor-Szenen der Offenbach-Opern und der Analyse der ›Traviata‹ deutlich geworden ist). Eros umfasst hier weit mehr als den Bezirk des im engeren


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