»Der Mensch ist am einsamsten in den Erlebnissen und Empfindungen,
an welche die Wissenschaft und Ratio nicht heranreichen, in denen er sich
in seiner Sprache auch niemandem mitteilen kann. Es ist die vornehmste
Aufgabe der Kunst – und in ihr am ehesten der Musik – , den Menschen
in diesen Bereichen von seiner Einsamkeit zu erlösen, die Menschen
miteinander zu verbinden und sie an ihre Gemeinsamkeit glauben zu
lassen.«7
Musik erlaube menschliche Äußerungen, die nur dort, im Musiktheater noch möglich
seien. Dass sie noch dort möglich seien, weist auf einen tiefen zivilisationskritischen Kern
in Felsensteins Theaterauffassung hin:
»Der moderne Mensch hat die Beziehung zum Ursprünglichen
verloren. Er ist in einer geheimnislosen Zivilisation erstarrt. Aber eine
unbestimmte Sehnsucht ist in ihm übriggeblieben. Sie kann sich in
der Kunst erfüllen. Wenn er im Theater die Wiederherstellung des
Elementaren erlebt, findet er das Elementare in sich selber wieder.
Das ist die einzige konkrete Auslegung der humanistischen Aufgabe des
Theaters.«8
Kunst fungiert hier als die Gegenwelt zur »geheimnislosen Zivilisation«, in der es
möglich wird, die eigentliche menschliche Natur zu restituieren. Die »unbestimmte
Sehnsucht«, das »Elementare« zu erleben, treibe Menschen zum Theater, ob als
Darsteller oder als Zuschauer. Musik reiche bei dieser Suche nach dem »Ursprünglichen«
am tiefsten in die Bereiche, die für Sprache, für »Ratio und Wissenschaft« unzugänglich
sind, hinein.
»Noch im kunstvollsten Duett [als dialogisierter Gesang im Vergleich
zur Arie ein der Sprache noch näherstehendes Beispiel musiktheatralischer
Ausdrucksform] ist jene Steigerung
ins Ursprüngliche mitenthalten, die allein Gesang auf der Bühne möglich
macht.«9
Gesang, dem »Elementaren« zumindest sehr nahekommend, sei jedoch kein
unmittelbarer Ausdruck des Unbewussten.
»Das Elementare ist kein wilder Ausdruckstrieb. Wenn auf der einen
Seite Gesang nicht entstehen kann, solange die alltägliche Nüchternheit
nicht verlassen wird und der Wunsch nach gesteigertem Ausdruck
nicht übermächtig wird, so entsteht er andererseits niemals, ohne
sich in Form zu ergießen. Der Ausdruckstrieb paart sich mit dem
Gestaltungstrieb.«10
Die Konzeptionen seiner Filme machen deutlicher, woran Felsenstein hierbei denkt: Als
roter Faden durchzieht insbesondere die Opposition von rationaler und emotionaler Welt
viele seiner Inszenierungen. Es lassen sich durchaus Grundzüge feststellen: Eine
(weibliche) Figur, die von Eros beseelt ist (Violetta, Boulotte, Füchslein), trifft auf eine
destruktive Gesellschaftlichkeit ihrer Gegenspieler (was insbesondere in den Chor-Szenen
der Offenbach-Opern und der Analyse der ›Traviata‹ deutlich geworden ist). Eros
umfasst hier weit mehr als den Bezirk des im engeren
|