- 156 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Die Kabaletta mündet in rasende Koloraturen, die die existentielle Dimension ihres Konfliktes ausdrücken. Die konventionelle Form mit langsamem ersten Teil und Kabaletta hat somit ihren musikdramatischen Grund in dem seelischen Zustand, in den Violetta durch die Geschehnisse des I. Aktes gelangte. Auch die Coda der Kabaletta, in der ihre Verdrängung des SZauber der Liebe Motivs komponiert ist, drückt exakt Violettas innere Situation aus. Die Entgegensetzung ihres Liebesgefühles mit der Pariser Lebewelt, ihrer ehemaligen Heimat, durchzieht den ganzen ersten Akt und kulminiert in dieser Arie, in der sie der Sehnsucht nach Liebe, die sie in Alfred gefunden hat, ihre alte Existenz entgegensetzt. Die Arie verdeutlicht, dass es sich um einen existenziellen Konflikt handelt, in dem sich Violetta befindet. Dies ist die zentrale Bedingung dafür, dass sie zur tragischen Figur wird, Felsensteins Konzept, eine »Tragödie antiken Ausmaßes« vorzufinden, lässt sich an der Form dieser Arie auch musikalisch nachweisen. Die Arie wiederum erhält nur dann eine Bedeutung, wenn man sie auf die Handlung des I. Aktes rückbezieht, wenn sich Violetta als Kurtisane in ein Gefühl echter Liebe verstrickt.

Felsenstein hat, wie gezeigt wurde, sein Konzept, das wesentlich durch die Tragik Violettas gekennzeichnet ist, sowohl aus musikalisch vermittelten Charakterisitika gewonnen – monotone Tonrepetitionen drücken die Seelenlosigkeit der Fest-Gesellschaft aus, die Zerstückelung einer Kantilene resultiert aus Violettas Betroffenheit von Alfreds Liebeserklärung – , als auch durch Rückbezüge von der Stückhandlung auf musikalische Verläufe – aus Vorgeschichte und Ausgangssituation entwickelte szenische Handlungen wie der »Hahnenkampf« Violettas und Floras oder die Wichtigkeit der von Violetta durchgeführten Tischordnung erklären die Wiederholungen des Fest-Themas – wobei sich die Frage nach dem Grund, dem Anlass gerade der Musik, die erklingt, als zentral erwies. Ihre Beantwortung beziehen Handlung und musikalischen Velauf in einer Weise aufeinander, die Felsenstein »musikalische Handlung« nannte. An der Arie Violettas wurde deutlich gemacht, wie eine musiktheatralisch vermittelte Stückhandlung Tonarten-Zusammenhänge und ihre musikalische Form begründet, was wesentlichen Aufschluss über die szenischen Handlungen gibt. Sie müssen das konkretisieren, was der Komponist gemeint hat, »weil es der Komponist konkretisiert hat«.234

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vgl. Felsenstein, Schriften, S. 106. Felsenstein verdeutlicht hier auch seine These von der »Partitur als Regiebuch«, indem er von dem »Programm« spricht, dass ein Komponist wie Mozart (seine Gleichsetzung von Partitur und Regiebuch bezog er auf Verdi) mit »jedem Takt und jeder Note« gemeint habe: »Bei Mozart [. . . ] ist jeder Takt und jede Note Wahrheit. Ich wage sogar zu sagen: Programm. [. . . ] Auch ich fühle mich belästigt, wenn es darstellerisch so plump konkretisiert wird, daß ich als Zuschauer zum Dummkopf gemacht werde; aber es muß konkretisiert werden, weil es der Komponist konkretisiert hat.« ebd.
Szenische Handlungen sollen also nicht als der Musik an die Seite gestellte Verrichtungen verstanden werden, sondern als Konkretionen des jeweiligen Zustands, den die Musik zum Ausdruck bringt. Darin besteht die Einheit von Gesang und Darstellung, die den »Dualismus von Musik und Szene« im »musizierenden Theater« aufhebt.


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