- 155 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (154)Nächste Seite (156) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Die harmonische Abfolge des accompagnatos verdeutlicht diesen Gedanken. Violetta beginnt unbegleitet in As, der Tonart des vorhergehenden Chorstückes, mit den Worten »Wie seltsam«. Dann folgt auf dem Ton es »Ins Herz drang mir jedes seiner Worte« [Alfreds]. Auf »Worte« erreicht sie das e. Von den Streichern in forte begleitet erklingt E-Dur ohne Modulation! Die Erinnerung an sein ›Wort‹ reißt Violetta von As-Dur in den davon entfernten E-Dur-Klang. In E-Dur stellt sie sich auch die Frage »Wär’ es für mich ein Unglück, ernsthaft zu lieben«, bevor ihr neues Liebesgefühl sie ergreift. Dass sie hier noch nicht vom Liebesgefühl erfüllt ist, sondern an dessen Konsequenzen denkt, beweist das E-Dur: Ihr Liebesgefühl erklingt später selbstverständlich in F-Dur, der Tonart des arioso Alfreds. Aus der As-Dur-Welt des Festes ›riss‹ sie ihr Gedanke an Alfreds Worte nach E-Dur. Die Tonart ihres Liebesgefühls, F-Dur, erreicht sie durch eine unbegleitete Modulation (Takt 14f.). Das F-Dur wird jedoch sofort zur Dominante von b-Moll. Erst in ihrer Arie ›erinnert‹ sie sich in F-Dur an Alfreds arioso aus dem Duett.

Die Arie beginnt in f-Moll, der parallelen Molltonart zum As-Dur der Festgesellschaft des »Aurora«-Chores und gleichnamigen Moll-Tonart zum F-Dur des Arioso Alfreds. Diese Tonarten-Beziehungen verweisen wiederum auf den von Felsenstein festgestellten Zustand der Violetta. Er ist durch die Bewusstwerdung dieser Gefühlssituation in all ihrem Widerstreit zwischen Violettas alter Welt und der neu entdeckten Liebe gekennzeichnet. Diesem Widerstreit widmet sich die Arie Violettas. Sie ist konventionell aufgebaut. Im strophisch mit Refrain angelegten Andantino thematisiert Violetta ihr neu gewonnenes Liebesgefühl, das sie im accompagnato reflektierte. Den Refrain bildet Alfreds arioso aus dem Duett, das nun sie singt, sie hat ihre Liebe zu Alfred eingestanden. In der Kabaletta will sich ihre alte Existenz durchsetzen. Es ist ein brilliantes Musikstück voller Koloraturen und Verzierungen. Sowohl in der Kabaletta als auch in deren Coda erklingt wiederum Alfreds arioso, diesmal von ihm – unsichtbar – gesungen.233

233
Der Klavierausszug verlangt, dass Alfred unter dem Balkon singt. Dass diese Arie eine rein innerpsychische Auseinandersetzung Violettas ist und diese Regie-Anweisung sich einer Realistik verdankt, die für den heutigen Zuschauer zumindest unnötig ist, liegt auf der Hand.
Zu Beginn erklingt es vollständig. Violetta wirft nach einem Seufzer nur ein kurzes »oh Liebe« ein, bevor sie mit einer rasenden Koloratur das arioso Alfreds beendet. In der Coda taucht nur noch viermal das zweitaktige »Zauber der Liebe«-Motiv auf, in das Violetta durch staccatisierte Tonleiter-Läufe aufwärts einfällt, sich gewissermaßen gegen das Gefühl, das dieses Motiv hervorruft, zur Wehr setzend.


Erste Seite (i) Vorherige Seite (154)Nächste Seite (156) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 155 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch