3.8.6. Duett. Das TrinkliedFelsensteins konzeptioneller Grundgedanke der Tragik der Violetta verlangt, dass er alle dramaturgischen Formen sowie deren musikalische Verläufe erklärt. Weiterhin fordert Felsenstein, dass eine Konzeption jede Äußerung der Sänger begründet. Diese Forderung muss Felsenstein mit seinem Konzept erfüllen, wenn er seine eigene Behauptung, eine »Meister-Partitur sei ein Regie-Buch« nicht blamieren will. Wenn die Geschichte der Violetta wirklich eine »Tragödie antiken Ausmaßes« ist, muss in der Oper deutlich werden, warum Violetta sich tragisch verstrickt. Wie wird aus einer Kurtisane glaubhaft eine aufrichtig und vorbehaltlos Liebende? Felsenstein benennt den Ausgangspunkt Violettas Interesses an Alfred: An diesem Abend will Violetta erfolgreich ihr comeback als konkurrenzlose Lebedame No.1 in der Pariser Lebewelt beweisen. Dazu beabsichtigt sie, sich vor den Augen der Lebewelt einen Neuankömmling, Alfred, zu Füßen zu legen.218
»Der Sohn von Germont, der noch nie in diesem Kreise Aufnahme gefunden hat, der allerdings die Erfüllung seines Lebens darin betrachtet, hier in diesem Kreise Violetta begegnen zu dürfen, der bestimmt keine Unschuld vom Lande darstellt, der aber [...] wie kann so ein Mensch singen, ›Nun trinket, ja trinket aus vollem Pokale den Wein, den die Schönheit uns spendet.‹ [textit(Felsenstein singt das Trinklied an.] – Ich begnüge mich mal mit dem Text. ›Und ehe die flüchtige Stunde endet, berausche Euch sein Genuss. Genießt in bangem Glücksgefühl des Herzens heiße Triebe, denn göttergleich macht die Liebe, gebt hin Euch ihrem Kuss.‹ Das ist in der Sprache gepflegter Literatur und Poesie, aber durchaus eindeutig-zweideutig. Woher soll Alfred das haben? Das ist ausgeschlossen. »Oh, trinkt aus dem Kelch der Liebe, gebt küssend Euch hin dem Genuss.« Der weiß gar nicht, wie man sich küssend dem Genuss hingibt und sagt das in Reimen und in Versen. Der lange Rede kurzer Sinn: es kann nicht anders sein, sage ich, ich brauche nicht Recht zu haben, dieses Trinklied singt Violetta.«220
Felsenstein meint damit natürlich nicht, dass Violetta den Duettpart des Alfred singt, sondern dass sie in Alfred eine Empfindung entfacht, die ihn verwandelt, sie gewinnt eine »hypnotische« Macht über ihn. Dass Alfred nicht ein auswendig gewusstes vorbereitetes Trinklied vorsingt, beweist Felsenstein aus der Musik heraus: »[Korr. spielt den Vordersatz des Trinkliedes] Das Trinklied, selten zu hören in Opernhäusern zwischen Etsch und Memel, beginnt piano [Felsenstein markiert leise Melodie und Rhythmus auf »m pa pa«]. Dreifaches pianissimo [Felsenstein singend,] dann forte [Felsenstein forte singend, dann plötzlich:] pianissimo [ebenso singend. Wenn das Klavier an der entsprechenden Stelle ist, flüstert Felsenstein:] Pause! [Korr. weiterspielend]. Es gibt wenig Tenöre, die das piano singen können, deshalb brüllen die es meistens. Was auch schön |