- 142 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Felsenstein betont die Wichtigkeit der Punktierungen. Um deutlich zu machen, was er meint, imitiert Felsenstein einen uninspiriert singenden Chor, der weder die Punktierungen noch die Akzente singt. Dadurch hebt er hervor, dass der durch die Punktierungen hervorgerufene scharfe Ausdruck verloren geht. Wie Felsenstein diese Chorstelle singt, macht deutlich, dass es hier nicht um eine harmlos feiernde Gesellschaft geht, sondern um Vergnügungen von »Amüsiergeiern« (Felsenstein), deren Amüsement im Erleben exzessiver Sensationen ohne Rücksicht auf irgendjemanden oder -etwas besteht. Dazu Felsenstein:

»Wenn Sie diesen Rhythmus beachten und ein richtiger Chordirektor oder Dirigent wird nichts anderes dulden als die Beachtung dieser Noten, dann ist von vornherein das also, naja, das ist eine Rakete, das ist mit Pfeffer, und was pfeffern wir? Wir pfeffern unsere Amüsierkanone: Violetta. Wir erwarten von ihr etwas.«211

211
ebd., S. 11

Die Haltung der feiernden Gesellschaft zu Violetta leitet Felsenstein aus dem direkt vorhergehenden Geschehen ab, nämlich dem »Hahnenkampf« (Felsenstein) Violetta-Flora:

»Wenn also nach diesem kleinen Renkontre Flora-Violetta jetzt die Aufforderung Violettas erwidert wird ›Das Vergnügen ist meine Arznei, mit ihr betäube ich jeglichen Schmerz!‹ alle sofort einstimmen, um sie aufzupulvern, um sie dort, wo sie jetzt ist, in ihrer Opposition gegen Flora, in ihrem Nicht-Dulden irgendeines Widerspruchs gegen ihre Gesundheit, wissen wir [Untertext des Chores], was wir von ihr heute abend zu erwarten haben. Wir sind also nicht etwa jetzt gefühlsverbunden Violetta genüber, sondern wir sind gelangweilt und haben niemanden, der uns so gut unterhalten kann wie Violetta, und wenn Violetta also guter Dinge ist und jetzt der Flora sauer ist, dann ist das also wunderbar und wir sind alle einer Meinung: ›Ja, wir leben allein dem Genuss, ja wir leben allein dem Genuss!‹«212

212
ebd., S. 10f.

Es lassen sich für Felsensteins Ansicht weitere Argumente aus dem musikalischen Verlauf der Introduktion bis zu der betreffenden Chorstelle entnehmen. Der Hahnenkampf geschieht auf einer kurzen viertaktigen Phrase, eingeschoben in die regelmäßige 24taktige Festmusik, die dreimal vollständig erklingt. Den Abschluss der zweiten Wiederholung bildet die betreffende Chorstelle (»Ja, wir leben allein dem Genuss«). Der ausgesprochen kurze Einschub, die Nachfrage nach Violettas Gesundheit betreffend, wird von Violetta in das Festthema überführt, das sie jetzt selbst singt – hier erklingt das Festthema das einzige Mal gesungen, nämlich von Violetta: es ist ihr Fest. Von ihrer langen durch Krankheit erzwungenen Abwesenheit ist nur in diesen vier eingeschobenen Takten Musik die Rede, die nicht einmal Violettas Krankheit vorbehalten sind: Später wird zu den gleichen vier Takten die gedeckte Tafel begrüßt (4 Takte vor Ziffer 4). Aus ihrer Entgegnung zieht der Chor das besagte vier Takte lange ›Resümee‹: »Ja, wir leben allein dem Genuss«. Die von Felsenstein skizzierten Grundzüge der Handlung erklären die Kürze, mit der Violettas Krankheit abgewickelt wird, bevor endlich weitergefeiert werden kann.


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