- 143 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (142)Nächste Seite (144) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Um damit die Betrachtung der Pariser Lebewelt als Folie für die eigentliche Tragödie des Stückes abzuschließen, sei noch Felsensteins Analyse des großen Ensemble-Einsatzes mit Chor, in der dritten Strophe des Trinkliedes herangezogen. Die ersten beiden Strophen des Trinkliedes, die von elementarer Bedeutung für das Verhältnis Alfred-Violetta sind, werden später betrachtet. Soviel sei jedoch schon zum Verständnis vorausgeschickt, dass im Trinklied, so Felsenstein, die Verzauberung stattfindet, die Alfred durch Violetta erfährt und die auf Violetta zurückwirkt. Dort beginnt ihre Liebesgeschichte mit Alfred, ihr Ausgeliefertsein dem Gefühl der Liebe – ein Geschehen, das auf dieses Fest nicht passt. Diese Intimität der Beiden geschieht vor den Augen aller. Der musikalische Aufbau insbesondere der 3. Strophe legt Felsensteins Gedanken nahe: Nachdem die 1. Strophe von Alfred und die 2. von Violetta gesungen wird, singen den Beginn der 3. Strophe Chor und Ensemble der restlichen Solisten. Der szenische Hauptvorgang liegt jedoch selbstverständlich bei dem, was zwischen Violetta und Alfred, die beide nicht singen, geschieht, d. h., Chor und Ensemble singen, während sie die beiden beobachten.

»Die Leute [die Lebewelt] hier werden Zeuge eines Vorganges, den sie auch im Spiritistenclub noch nicht erlebt haben. Was ist hier los? Also, das ist wundervoll, das regt uns mehr auf als viele andere Dinge, die wir schon hinter uns haben und an die wir schon zu sehr gewöhnt sind. Das ist was Neues, Ungewohntes, der Abend scheint sich zu rentieren. Sie sind Aug’ und Ohr, hängen an seinen Lippen, aber noch mehr hängen sie alle an den Augen Violettas, die eine gefährliche Brücke zwischen ihren und Alfreds Augen schlagen. Und in diesem Zustand singt der Chor aus einem pianissimo ein gedämpftes forte.«213

213
ebd.,S. 23

Felsensteins Markierung dieser Chor-Stelle stellt drastisch die dynamischen Gegensätze heraus.

»Diese dynamischen Gegensätze forte, pianissimo, forte, pianissimo können nur begründet sein, nicht, indem ein Chordirektor den Mitgliedern auf die Finger klopft, wenn sie f statt p und p statt f singen, sondern, weil ich einfach [...] weil das Wasser im Munde zusammenläuft aus Übermut und Freude und Neugierde, was da passiert. Es explodiert was. [Felsenstein übertreibt den Chorpart, die f-Stellen aufbrausend, die p-Stellen hechelnd, kaum noch singend.] Es ist nichts, als diese geile Neugierde und Freude, was wird zwischen diesen beiden verrückt Gewordenen passieren. Ich kann nicht oft genug darauf hinweisen, damit nicht irgendjemand auf den Fehler verfällt, diese Gesellschaft, die hier versammelt ist, für Menschen zu halten oder für brauchbare Menschen zu halten.«214

214
ebd., S. 23

Die scharfe Charakterisierung der Festgesellschaft erhält ihre Plausibilität auch im weiteren musikalischen Verlauf. Dass eine merkwürdige Annäherung der beiden im Trinklied geschehen ist, die die Festgesellschaft genau beobachtet hat, begründet den Mittelteil: Denn wiederum singen Violetta und Alfred allein, aber diesmal im Wechselgesang, weiterhin von der jetzt schweigenden Festgesellschaft beobachtet. Die Annäherung setzt sich fort, den Schlussteil der 3. Strophe singen Violetta und


Erste Seite (i) Vorherige Seite (142)Nächste Seite (144) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 143 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch