- 140 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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3.8.3.  Violettas Welt als Ausgangspunkt der Handlung

Wesentlich für die konzeptionellen Überlegungen ist, in welcher Welt sich die Liebesgeschichte zwischen Alfredo und Violetta abspielt. Felsenstein behauptet, dass Verdis Opernhandlung nicht in einem ahistorischen, unbestimmten Raum spielt, sondern dass sich die Handlungen der Personen aus ihren konkreten Interessen und diese sich wiederum aus ihren gesellschaftlichen Bezügen begründen lassen. Begründungen dafür müssten – gemäß seiner Ästhetik des Musiktheaters – der musikalischen Handlung entnommen sein.

Es sei vorangestellt, wie Felsenstein die Pariser Lebewelt in der ›Traviata‹ charakterisiert:

»Es gibt sehr viele Möglichkeiten, dass fröhliche, genussvolle Treiben einer nächtlichen Gesellschaft auszudrücken, auch musikalisch auszudrücken. So, wie es sich hier ausdrückt – wir werden es gleich hören – ist es eine nicht groteske Übertreibung und Überzeichnung dessen, was man oberflächlichen Genuss und egoistische Lebensfreude nennt.«206

206
ebd., S. 3

Belege für diese Sicht liefert Felsenstein in großer Zahl. Neben schon dargelegten dramaturgischen Überlegungen zum Geschehen direkt vor dem Einsetzen der Stückhandlung entwickelt Felsenstein diese Sicht aber auch direkt aus Betrachtungen des musikalischen Materials. Aus diesen Betrachtungen lässt sich ergründen, was es mit Felsensteins These auf sich hat, dass die Partitur ein »Regiebuch par excellence« sei.

Felsenstein beginnt dabei mit der schon oben besprochenen zweitaktigen Figur, mit der unvermittelt nach der Einleitung die Szene einsetzt. Dass hier keine kultivierte, dezente Gesellschaft feiert, macht Felsenstein deutlich, wenn er dieser zweitaktigen Figur abspricht, eine »gesellschaftliche Äußerung« zu sein.

Als einen weiteren Hinweis dafür führt Felsenstein das extreme Tempo, dass Verdi nach der Einleitung verlangt, an. Felsenstein bemerkt dazu, dass der ganze I. Akt mit Ausnahme des Duettes Violetta-Alfred und der Arie Violettas »durchrase«, er spricht dabei von einem »hysterischen Tempo«. Allein das extreme Tempo lässt natürlich noch keinen Rückschluss auf »oberflächlichen Genuss und egoistische Lebensfreude« zu. Erst im Kontext weiterer Untersuchungen zu der dort feiernden Gesellschaft erscheint Felsensteins Verweis auf das Tempo schlüssig.

Ein entscheidendes Indiz für seine Sicht auf diese Lebewelt gewinnt Felsenstein nicht durch Analyse der Musik, sondern durch genaue Textarbeit. Die Einladung Violettas, die Plätze am Tisch einzunehmen, »Nun setzt Euch, Ihr Freunde, Freuden der Tafel erschließen das Herz!« analysiert Felsenstein folgendermaßen:

»Was heißt das? ›Freuden der Tafel erschließen das Herz!‹ Fresst! Tüchtig! Damit das, was wir Herz nennen, erschlossen wird. Das ist eine Schweinerei, aber die in diesem Kreise Voraussetzung ist, um einander achten zu können. Sehr vornehm ausgedrückt allerdings.«207

207
ebd., S. 14

Der Libretto-Text wird von Felsenstein nicht als bloßes Anhängsel einer Musik, die den Auftakt irgendeines Festes meint, behandelt, sondern ernst genommen, sein


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