- 139 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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»Weil Flora dieselbe Existenzgrundlage hat wie Violetta. Sie ist nämlich auch Kurtisane und –auch wieder eine Vermutung von mir, die mir aber auch niemand von Ihnen widerlegen wird können – hat die Hoffnung gehabt, vielleicht nicht einmal vergeblich die Hoffung gehabt, in Abwesenheit Violettas, einer Krankheitsabwesenheit, die vielleicht eine Dauerabwesenheit wird, in der Geltung der Pariser Lebewelt den Rang von Violetta einnehmen zu können. Das wird sie nie zugeben. Sie tritt auf und küsst ihre Freundin Violetta auf beide Wangen, Violetta tut das ebenso. Was die beiden sich dabei denken, bleibt unausgesprochen [...].«204
204
ebd., S. 8

Durch diese Ausgangssituation erhält die Komposition, nämlich die Wiederholung der Anfangsmusik ihren dramatischen Sinn: Die Verspätung und der dadurch bedingte auffällige Auftritt Floras sowie das folgende Zwiegespräch zwischen Flora und Violetta sind begründete dramatische Handlung. Aus der musikalischen Wiederholung des Festthemas wird eine interessante Szene, die ein Licht auf die Festgesellschaft wirft. Die Szene Violetta-Flora wird zum »Hahnenkampf« (Felsenstein).

Wie genau Felsenstein die Partitur beachtet, erschließt sich auch daraus, dass er die Tatsache, dass der Marquis d’Aubigny als einziger zusammen mit Flora die impertinente Frage nach Violettas Gesundheitzustand stellt, für szenisch erklärungsbedürftig hält:

»Der Marquis d’Aubigny, ein Anwärter auf Flora, genießt seit 14 Tagen vermutlich ihre Gunst, noch nicht ganz endgültig aber auf dem besten Wege dazu, denn Flora ist ebenfalls eine begehrte Lebedame. Der sucht sich natürlich bei seiner künftigen Freundin, bzw., bei der, die es werden soll, beliebt zu machen, indem er nach einem Seitenblick vorher mit ihr in diese Bosheit miteinstimmt. Es ist eine Taktlosigkeit sondergleichen, die auch sofort zu einer kleinen Disziplinlosigkeit Violettas führt. ›Solltest Du Dich nicht schonen?‹ – ›Ich trinke‹ ist die Antwort! ›Ich trinke, das Vergnügen ist meine Arznei, mit ihr betäube ich jeglichen Schmerz!‹«205

205
ebd., S. 9

Folgerichtig wird aus Violettas vermeintlich harmloser Entgegnung angesichts ihrer Krankheit ein für den Zuschauer sichtbares Eingeständnis ihres Zustandes. Felsenstein markiert dementsprechend Violettas Part mit dem Gestus des Trotzes und des Ärgers gegen den beschriebenen Affront Floras und die Krankheit selbst.

Dadurch, dass Felsenstein die verschiedenen Interessenslagen der handelnden Personen aus der Vorgeschichte des Stückes sowie aus dem Stückverlauf aufs Genaueste analysierte, ergeben sich für den Zuschauer mit Spannung nachvollziehbare Handlungen und, nicht zu vergessen, für den Darsteller spielbare Situationen. So erhält z. B. der vermeintliche Neben-Darsteller des Marquis eine wichtige Aufgabe in dieser Szene, er hat eine spielbare Absicht. Der Rückschluss aus den Anfangstakten darauf, welche Handlung sie sinnvoll werden lässt, ermöglicht Felsenstein, eine aus der Vorgeschichte gewonnene Ausgangssituation zu beschreiben, die als verwirklichte Szene musikalische Verläufe zu theatralisch-dramatischen Vorgängen werden lässt.


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