- 138 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Paukenschlag, dem sich die hektische Erregtheit der versammelten Festgesellschaft anschließt. So gelangt Felsenstein zu der Einsicht, dass Violetta zu Beginn noch gar nicht da ist, sondern erst mit der »keine gesellschaftliche Äußerung« meinenden musikalischen Figur nach Abschluss des Vorspiels auftritt.

»Ich möchte hier auch wieder rechtfertigen und begründen, [...] warum die Inszenierung bei uns [in Felsensteins Inszenierung an der Komischen Oper] so und nicht anders stattfindet, nämlich, dass Violetta nicht anwesend ist, dass diese Ouvertüre, die kein Ende hat, die in ein tropfendes, staccatiertes Nichts ausklingt – die Ouvertüre hat keinen Abschluss – , es ist auch ein Vorspiel, keine Ouvertüre, die plötzlich aufhört, ausklingt, verröchelt. Und in das hinein kommt dieses, was man am Klavier nicht wiedergeben kann, dieses molto vivace brillantissimo im forte. Ohne, ohne Übergang, ohne Begründung, ohne Alles. Und das wird bei uns gezeigt, dass vorher, wenn der Vorhang offen ist, eine elegante, blasierte Meute von Damen und Herren sitzt und steht und wartet auf etwas, was wir nicht wissen. Im Hintergrund öffnet sich plötzlich von Dienern geöffnet ein Vorhang laut, die Leute fahren herum, alle wissen, die Gastgeberin Violetta kommt.«202

202
ebd., S. 3

Dieser Auftritt Violettas leistet die der Musik gemäße Konkretion. Die Analyse der unmittelbaren Vorgeschichte zur ›Traviata‹ ermöglicht Felsenstein, aus dem muskalischen Verlauf eine – gegenständlich-konkrete – Szene zu entwickeln. Die Begründung für diese szenische Lösung ist der Musik entnommen, und zwar vor allem dem ›Paukenschlag‹ sowie dem rasanten Tempo. Die inhaltliche Konkretion der Musik entnahm Felsenstein der rekonstruierten – und rekonstruierbaren – Vorgeschichte. Sie wiederum begründete stichhaltig die besondere Qualität des musikalischen Verlaufs. Der auf diese Art gefundene theatralische Vorgang konkretisiert den musikalischen Vorgang, der Musik tritt in der Szene ihre konkrete ›Bedeutung‹ an die Seite.

Ein weiteres Beispiel, wie Felsenstein aus der Stückhandlung die Vorgeschichte rekonstruiert, die wiederum konstitutiv für eine szenische Realisierung wird, sei noch aufgeführt: Nach der Begrüßung Violettas durch die anwesenden Gäste beginnt nach einer Fermaten-Pause der Chor der Anwesenden zu neu eintretenden Gästen. Felsenstein sucht für diesen musikalischen Verlauf eine Begründung in dem aus der Vorgeschichte zu eruierenden Verhältnis zwischen Violetta und Flora, der in der Gruppe der neu Eintretenden führenden Dame. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Tatsache,

»dass nämlich Flora, angeblich eine der besten Freundinnen Violettas, nachdem schon die ganze geladene Gesellschaft eine halbe Stunde vergeblich auf Violetta gewartet hat, jetzt noch später kommt.«203

203
Transkription, S. 7

Daran schließt Felsenstein die Frage an, warum diese Gruppe um Flora vor dem Fest Violettas an einem anderen Ort feiert, wenn doch an diesem Abend das große Comeback der Violetta Valery, der »anerkannt ersten Lebedame von Paris« ansteht. Felsenstein beantwortet die Frage mit dem Hinweis auf die Konkurrenzsituation der beiden Kurtisanen Violetta und Flora.


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