Zwar wird für den Zuschauer auf der Opernbühne singend gehandelt, jedoch nicht, um
ihn nur zu unterhalten. Der ›handelnde‹ Sänger
»weiß, daß die Schönheit eines wohllautenden Organs auf nichts anderem
als auf der Wahrheit seiner menschlichen Aussage
beruht.«163
Felsenstein, Schriften, S. 142
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Wenn der Sänger handelt, wird die Schönheit seiner Stimme demnach zum
Ausdrucksmittel. Ziel einer Handlung sei es laut Felsenstein, den Zuschauer
mittels der ›Wahrheit einer menschlichen Aussage‹ zu ergreifen. Auf diesen
Zweck der Kunst befragt eine Handlungsanalyse ein Stück, wenn ihr obiger
Handlungsbegriff zugrunde liegt. Situationen, die diese Ergriffenheit erzeugen, sind samt
ihrer jeweiligen Genese im Stück von einer Analyse zu erfassen. An seinem
Handlungsbegriff tritt wiederum der idealistische Kern der Theaterauffassung
Felsensteins zutage.
Auch wenn Felsenstein betont, dass sich sein im und für den Bereich des Musiktheaters entwickelter
Handlungsbegriff nicht von dem anderer Theaterformen, namentlich dem des Sprechtheaters,
unterscheide164
– was konsequent ist, wenn man ›Handlung‹ als ›für jegliches Bühnendasein
bestimmende Kraft‹ bestimmt –, sollen doch einige Besonderheiten, die sich für den
Handlungsbegriff aus der musikalischen Qualität des Musiktheaters ergeben, kurz
behandelt werden. Die eine Handlung konstiuierenden Vorgänge auf der Bühne
des Musiktheaters sind keineswegs vorrangig sprachlich bestimmt, sondern
theatralische Vorgänge, die dem Anspruch der Kunstform Musiktheater, Musik und
Text zu vereinen, genügen müssen. Wenn sie dies leisten, Musik und Text im
theatralischen Vorgang zur Synthese bringen, realisieren sie eine musikdramatische
Handlung. Folglich ist das Attribut des ›Dramatischen‹ weder primär dem Text
zuzuordnen, noch ist zu unterschlagen, dass der Text einen ›Teilmoment der
Handlung‹165
In der Untersuchung von Richard Wagners Theorie des Dramas weist C. Dahlhaus
zurecht darauf hin, dass, wenn man anerkennt, dass Text und Musik Teilmomente einer
theatralischen Handlung sind, es nicht genüge, das Wort-Ton-Verhältnis zu analysieren.
Insofern erweist sich Felsensteins Erweiterung des Handlungsbegriffs nicht als pragmatische
Setzung eines Opernregisseurs, sondern als ihrem Gegenstand, der Kunstform Oper, durchaus
angemessen. Vgl. Dahlhaus, Carl: Wagners dramatisch-musikalischer Formbegriff, in: ders.:
Vom Musikdrama zur Literaturoper, München 1989, S. 67ff.
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darstellt. Wenn also »die dramatische Handlung alle körperlichen, vokalen und auch
instrumentalen Äußerungen bestimmt«, dann bleibt die Frage bestehen, wie Felsenstein
bei einer Handlungsanalyse vorgeht. Wie erfasst er die musikdramatischen Qualitäten
der Musik und wie lässt er diese ›körperlich‹ werden? Wie gestaltet sich bei ihm das
Verhältnis von Text und Musik im Hinblick auf eine Inszenierung?
Aus der Analyse der Musikästhetik Felsensteins ist – vorläufig durchaus simplifizierend
– zu folgern, dass die musikalische Seite einer Szene eher die Innerlichkeit der Charaktere
vermittelt und sich in körperlichem und Gesangsgestus niederschlägt, während die
Analyse des Textes sowie die aus ihm entfaltete Vorgeschichte etwas über die
äußere ›Faktenlage‹ der jeweiligen Situationen verrät. Sehr prägnant hat der
stilbildene Theaterregisseur K.S. Stanislawskij diesen Wesenszug des Musiktheaters
gefasst:
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