- 125 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Mit ›dramatischer Handlung‹ ist keineswegs nur der im Libretto sprachlich vermittelte Gang der Handlung gemeint. Sein damaliger Mitarbeiter Götz Friedrich fasste den Begriff der Handlung als »die körperlich gewordene, sinnlich-konkrete Fabel-Linie«.157
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Friedrich, Götz: Musiktheater, Frankfurt/Main, Berlin, 1986, S. 27
Während der Begriff der ›Fabel-Linie‹ die sinnstiftende Anordnung der Ereignisse in einem Theaterstück betont, also die Abfolge der Situationen, die die Figuren durchlaufen, indem sie handelnd ihre Interessen verfolgen, verweist Friedrichs Betonung der Körperlichkeit darauf, dass erst die Handlung als Bühnenhandlung, also als aufgeführte oder für die Aufführung gedachte, den Anforderungen eines Handlungsbegriffs auf dem Feld des Theaters vollends gerecht wird. Dass auch Felsenstein die konkrete Anwendbarkeit des Handlungsbegriffs für die Stückanalyse im Auge hat, zeigt sich daran, dass er den Zuschauer mitdenkt, wenn er von ›Handlung‹ spricht:

»Je mehr die Handlung und die gezeigten Charaktere in die Vorstellungswelt der Zuschauer eingreifen und ihre Gedankengänge über das eigene Leben berühren, desto mehr interessiert das Stück.«158

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Felsenstein, Schriften, S. 86

Der Zuschauer ist hier keineswegs nur als Adressat wichtig, sondern er wird zur Instanz, die darüber entscheidet, ob eine Bühnenhandlung dramatisch ist. Das wird sie dann, wenn sie dadurch, dass sie ›in die Vorstellungswelt des Zuschauers eingreift‹, den Zuschauer unmittelbar ergreift. Die Ergriffenheit des Zuschauers im Musiktheater wird nach Felsensteins Auffassung durch konkret gewordene, d. h., durch szenische Vorgänge anschaulich gemachte Gehalte musikalischer Vorgänge hervorgerufen, die aber nicht auf ihren Bedeutungsgehalt zu reduzieren sind, sondern in ihrer sinnlichen Qualität als Musik gewordene Handlung ebenso von einer Stückanalyse erfasst werden müssen.

Felsenstein fasst die ›Handlung‹ als das »Grundelement des Theaters, die für jegliches Bühnendasein bestimmende Kraft«.159

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ebd., S. 141
Er grenzt seinen Handlungsbegriff ausdrücklich ab, wenn er schreibt,

»daß der Begriff Handlung nicht simplifiziert und beschränkt werden darf auf ›Story‹, ›Inhalt‹, ›Bewegung‹, ›Spiel‹ und ›Aktion‹.«160

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ebd.

Weder auf den Stückverlauf zielende (›Story‹ und ›Inhalt‹) noch die darstellende konkrete Aktion meinende Vokabeln (›Bewegung‹ und ›Spiel‹), noch der Bedeutungen ins Auge fassende Begriff des Inhalts fallen mit Felsensteins Handlungsbegriff zusammen. Wenn Felsenstein Handlung als ›Grundelement des Theaters‹ auffasst, dann muss auch in ihr der Zweck des Theaters, ›menschliche Wahrheiten‹ auszusagen, aufgehoben sein.161

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vgl. Kap. 2.1.2 der vorliegenden Arbeit: »Felsensteins Humanismus«
Insofern stellt die »Handlung als Kriterium«162
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So betitelte Götz Friedrich einen Aufsatz über den Handlungsbegriff, in: ders.: Musiktheater, Frankfurt/Main, Berlin, 1986
die auf den Zuschauer bezogene Instanz dar, die über die Erfüllung des Anspruches an das Theater, Kunst zu sein, entscheidet.


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