- 112 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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einer objektiven Wirklichkeit und führt zu autonomen Kunsträumen, die andere, die auch im Weiteren diskutiert werden soll, möchte Entfremdungstendenzen mittels einer abstrakten Darstellungsweise, die die prinzipielle Beschädigung der Welt zeigt, künstlerisch gerecht werden. Einer Darstellung, die die Welt ›im Ganzen‹ lässt, wirft diese Auffassung die Absicht idealistischer Versöhnung vor.

Dieser Vorwurf wurde Felsenstein auch von Nora Eckerts129

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Eckert, Nora: Von der Oper zum Musiktheater, Henschel, Berlin, 1995, S. 35–40
gemacht. Da ihre Kritik direkt in das Zentrum der Vorwürfe auch gegen die ›Füchslein‹-Inszenierung führt130
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Ähnliches liegt offenbar auch der Einschätzung Kobàns zugrunde, wenn sie in ihrer Schilderung eines Gespräches mit Irmgard Arnold zu bedenken gibt: »Meinen zaghaften Einwand, ob sie nicht meint, daß es besonders heikel ist, die heile Welt von Wald, Mensch und Tier gültig (ein Lieblingswort Felsensteins) auf die Bühne zu bringen, läßt Irmgard Arnold nicht gelten.« Kobàn (1997), S. 138
und durchaus gängige Argumente dieser viel vertretenen Position genannt werden, sei sie hier kurz ausgeführt. Eckerts Eingangsthese lautet folgendermaßen: Angesichts der deformierten Welt könne Felsensteins Realismus in seiner intakt – gegenständlichen Sprache die aktuelle Wirklichkeit nicht mehr erfassen, da Abstraktion das adäquate Ausdrucksmittel der Kunst für die Deformation geworden sei. Ohne Abstraktion werde Theater zur Sinnstiftung in einer entfremdeten Welt.131
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»Das Gute und Wahre der Idealisierung gegen die bösen formalistischen Auflösungstendenzen.« Eckert, S. 35

Dieser Standpunkt lehnt eine sinnstiftende Kunst explizit ab. Kunst solle nicht von der Wirklichkeit ablenken, indem sie Sinn vorgaukele. Eine sinnlose Wirklichkeit verlange nach einer Theaterkunst, die eben die Sinnlosigkeit, das Disparate, erfasse. Dies jedoch nicht, indem sie sich lustvoll in der Sinnlosigkeit tummelte, sondern als Kunst Wahrheiten ausspreche. Das implizite Moment der Aufklärung über die Unvollkommenheit der Welt, taucht entpersonalisiert auf: nicht mehr Tugend wird eingeklagt, sondern die Deformation der Welt angeklagt. Stellte eine ›idealisierende‹ Darstellung als Übel in der Welt den Mangel an Moral fest, so besteht die Moral einer vermeintlich angemesseneren, ›abstrakten‹ Darstellung darin, die Deformation der Welt herauszustellen, ihren Mangel an Sinn. Nichts anderes kann in dieser formalen Allgemeinheit der deformierten Welt gefasst sein, als gerade die Deformation der Sinnhaftigkeit der Welt.

Eine Welt, der der höhere Sinn abhanden gekommen ist, soll auf dem Theater erscheinen und das zu dem Zweck, dass der Rezipient die Wahrheit über die Welt erfährt. Während das idealistisch-illusionistische Theater den Zuschauer in der Sicherheit der Sinnstiftung wiegt, so soll die abstrakte Darstellungsform den Menschen aufrütteln zu erkennen, in was für einer Welt er lebt und bewirken, dass er sich aufmacht, das moderne Ideal des Sinns zu verwirklichen – oder sich der Aporie bewusst zu werden, die es beinhaltet, mittels einer (darin schon autoritären) Wertevermittlung durch das Theater zu einer selbstbestimmteren Welt erziehen zu wollen.

Auch dieses Theater erhält den Auftrag, Idealen zur Verwirklichung zu verhelfen, denn nichts anderes als die Ideale der Menschlichkeit, der Natur, der Liebe verbergen sich hinter der Kritik an einer entfremdeten Welt voller


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