- 111 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (110)Nächste Seite (112) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Eine solche Betrachtungsweise interessiert sich weniger für die Bestimmungen der jeweiligen Stile als für eine Apologie des zum Maßstab gesetzten Stils.

Auf jeden Fall hätte obiger Verfasser an dem Gedanken der ›sogenannten Wirklichkeit‹ auf der Bühne und der ›(vermeintlichen) Wirklichkeitskopie‹ verweilen sollen, er hätte mehr über Felsensteins Inszenierung herausgefunden, nämlich vor allem, was es mit der von ihm festgestellten ›Verdichtung der Materie, durch die Stoffliches in Geistiges umschlüge‹, auf sich hat. Denn Felsenstein hat den naturphilosophischen Gedanken einer höheren Idealität der Natur in seiner überaus konkreten Bühnenwelt zur Anschauung bringen wollen. Den maßstabsetzenden ›Stil‹, der von Schön zugrunde gelegt wird, hat ein anderer Kritiker kurz und treffend beschrieben:

»Was werfen diese Fachleute dem Füchslein von Janacek vor, so, wie Felsenstein es aufgefaßt hat? Daß es, wie es scheint, außer Mode sei und in vollständigem Gegensatz zu den gegenwärtigen Bestrebungen der Inszenierungskunst stehe, die auf Beschränkung der Mittel hinzielen.«127

127
ebd., S. 197

Nicht der Reflexion der Inhalte eines Stückes und deren mehr oder minder angemessenere Darstellungsform verdanken sich die Einwände, sondern einem vorgefassten Standpunkt, wie man Wirklichkeit darstellen müsse.

Jedoch scheint jener Standpunkt mit ›Mode und Gegenwärtigkeit‹ nicht hinreichend benannt zu sein – wenn auch die in dieser Charakterisierung liegende Polemik durch die bewusste Banalisierung durchaus zutreffend erscheint – , er begründet sich selbst weitaus prinzipieller. ›Beschränkung der Mittel‹ bedeutet nämlich nichts anderes, als das, was man gemeinhin abstrakte Darstellungsweise nennt. Von der Erscheinungsform der wirklichen Welt wird abstrahiert, indem die mit der Bühnenwelt gemeinten Dinge anders als im Leben dargestellt und hier im Besonderen unvollständig gelassen, nur angedeutet werden. Die Begründung dafür lautet meistens: Die Wirklichkeit sei – mittlerweile – derart disparat, dass eine Bühnenwirklichkeit, die ›intakt‹ sei, die die Totalität einer idealen Wirklichkeit nachahme, einem ihr unangemessenen Idealismus huldigen würde.128

128
Dieses Argument lässt sich schon in Brechts Lukács-Kritik in der Expressionismus-Debatte der 20er Jahre entdecken, hier wird im Weiteren eine aktuellere Version, die sich zumal ausdrücklich gegen Felsenstein richtet, diskutiert. Dennoch weist eine so allgemeine Argumentation immer einen gewissen Grad an Formalismus auf, wie schon Brecht in seiner damaligen Entgegnung feststellte. Vgl. Schmitt, Hans-Jürgen (Hrsg..): Die Expressionismus-Debatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1973, zu Lukács Position s. S. 205f., zu Brechts Entgegnung s. S. 324ff.

Die abstrahierende Darstellungsweise hat sich in den letzten Jahrzehnten auf den Bühnen durchgesetzt, deswegen seien die gedanklichen Grundlagen, die mittlerweile so ziemlich jede aktuelle Inszenierung als Selbstverständlichkeit durchziehen, kurz skizziert. Damit soll nicht behauptet sein, jeder Spielart modernen Musiktheaters im Einzelnen gerecht zu werden, nur gründet eine – wie auch immer geartete – abstrakte Spielweise auf der benannten Entscheidung, die Kriterien für glaubwürdiges Theater können einer Auffassung der Wirklichkeit, wie sie uns erscheint, nicht mehr entnommen werden. Prinzipiell lassen sich wiederum zwei Begründungsspielarten feststellen: Die eine gründet in der erkenntnistheoretischen Annahme der Auflösung


Erste Seite (i) Vorherige Seite (110)Nächste Seite (112) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 111 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch