- 82 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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fünf. Die Perspektiven für die Interpretation dieses Sachverhaltes zeigen sich erst nach einem Rekurs auf Mahlers Liedästhetik. Grundzüge seiner Haltung zur Liedkomposition finden sich bei Elisabeth Schmierer dargestellt. Sie stützt sich auf Aussagen von Natalie Bauer-Lechner und eine Erinnerung von Ernst Decsey. Danach hat Mahler grundsätzlich die durchkomponierte Liedform favorisiert und die strophische Anlage kritisiert. Das geht jedenfalls aus einer Notiz Bauer-Lechners hervor, die aus dem gleichen Sommer 1899 stammt, in dem Revelge entstanden ist: »Auch kann er [Loewe] sich von der alten Form noch nicht befreien, wiederholt die einzelnen Strophen, während ich ein ewiges Weiterlaufen mit dem Inhalt des Liedes, das Durchkomponieren, als das wahre Prinzip der Musik erkenne. Bei mir findest du von allem Anfang an keine Wiederholungen bei wechselnden Strophen mehr eben weil in der Musik das Gesetz ewigen Werdens, ewiger Entwicklung liegt.«51
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Bauer-Lechner, Erinnerungen, S. 136.

Neben dem Bekenntnis zum Durchkomponieren – was sich dann häufig als eine variierte Strophenform realisiert – enthält dieses Zitat eine weiterführende Aussage zu seiner Liedästhetik: Er bekennt, er komponiere weiterlaufend mit dem Inhalt des Liedes bei wechselnden Strophen. Demgegenüber finden sich Aussagen Mahlers, das Komponieren geschehe auf hundertfach verschiedene Weise, manchmal entstehe auch erst die Melodie und er suche sich dann einen passenden Text hinzu. Eine Äußerung Mahlers, die sich auf Hugo Wolf bezieht, lautet bei Ernst Decsey 1911: »Ach was, ich weiß! Tonmalen kann jeder! Aber ich verlange von einem Lied nicht, daß es klingelt, wenn ein Vogel vorkommt und im Baß herumbrummt, wenn der Wind geht – ich verlange: Thema, Durchführung des Themas, thematische Arbeit, Gesang, nicht De-kla-ma-tion!«52

52
Ernst Decsey, Stunden mit Mahler, in: Die Musik 10 (1911), S. 144.

Das deutet auf eine stärkere Betonung musikalischer Eigengesätzlichkeit hin. Er bekennt sich zu einer Melodiebildung mit Periodenstruktur – Gesang, nicht Deklamation – und zu Kompositionsverfahren der Instrumentalmusik – thematische Arbeit –. Damit ist jedoch keineswegs gesagt, daß sich die Erfindung vom Text entferne, sondern daß beiden Prinzipien, Textbezogenheit und musikalisch-thematische Arbeit, gleichzeitig zu geschehen haben. Das, was Mahler mit thematischer Arbeit meint, wird, um nur ein Beispiel zu nennen, an der Singstimme von Revelge evident. Die erste Zeile, »Des Morgens zwischen drei’n und vieren«, wird in der folgenden Zeile, »da müssen wir Soldaten marschieren«, aufgegriffen und weiterbearbeitet. Ebenso in der dritten Strophe: zunächst nur ein Sextsprung »Ach Bruder«, der dann weitergearbeitet wird mit »ach Bruder, ich kann dich nicht tragen«, und nochmals weitergearbeitet wird in der folgenden Zeile »die Feinde haben uns geschlagen«. Hier liegt genau der Gegensatz zu Deklamation vor, die solche Verfahren nicht berücksichtigt. Was Mahler in der Symphonik an die Sonatenform klammert, das erfüllt hier die Periodik und die thematische Arbeit: die Verpflichtung, Hergebrachtes und Gegebenes zu erfüllen, vielleicht auch neu zu beseelen.53

53
Vgl. das Kapitel über Mahlers Ästhetik (Kap. III.).
Darin eine Absage

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