- 81 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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weit in Deutschland und Österreich herumgekommen, so daß sich seine Kenntnis von Volksliedern nicht mehr auf das Repertoire seiner Heimatstadt beschränkte. Auch der Zugriff auf die Wunderhorn-Sammlung belegt ja, daß er sich nicht dem tschechischen, mährischen oder böhmischen, sondern dem deutschen Volksliedgut zuwandte.

Der erste auffällige Unterschied zwischen der Volksliedmelodie und Mahlers Gesangsmelodie ist das veränderte Tongeschlecht: im Volkslied Dur – bei Mahler Moll. Das ist etwas durchaus Typisches für Mahler: der Bruder-Martin-Kanon erscheint im dritten Satz der Ersten Symphonie in Moll, und auch weitere Lieder, deren Anfänge Ähnlichkeiten mit Mahlers Fassung aufweisen, sind nach Moll gewendet, so Trost im Unglück47

47
Ernst Klusen, Gustav Mahler und das Volkslied seiner Heimat, in: Journal of the International Folk Music Council 15 (1963), S. 31.
und Zu Straßburg auf der Schanz’48
48
Ugo Duse, Origini popolari del canto Mahleriano, in: L’Approdo Musicale 16–17 (1963), S. 105. Die Volkslied-Anklänge dieses und des vorher genannten Mahler-Liedes sind schon bei Pamer 1922, S. 120 aufgezeigt.
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Fritz Egon Pamer schreibt 1922, Mahlers Liedmelodie trage denselben Charakter wie ihre ursprüngliche Volksliedmelodie.49

49
Pamer, S. 121.
Diese Aussage ist nicht haltbar. Zwar gibt es Ähnlichkeiten zwischen beiden Fassungen: der Rhythmus, die Auftaktigkeit und auch die weitere Entwicklung der rhythmischen Gestaltung, die allerdings schon in der Metrik des Textes angelegt ist. In der Melodie zeigen sich Übereinstimmungen in den Dreiklangsbrechungen und der Bogenform der einzelnen Textzeilen. Identisch findet sich ein aufsteigender Dreiklang zum Text »da müs-«; auch die absteigende Stufenleiter bei »Schätzel sieht herab« weist Ähnlichkeiten auf, auch noch in der anders gestalteten dritten Strophe bei »-ren bis in’ Tod«. Entscheidend ist aber, daß die einfache Sanglichkeit der Volksliedmelodie sich bei Mahler in eine außerordentlich schwer zu singende Weise verwandelt, die jeder Volkstümlichkeit entbehrt. Dazu tragen zunächst verminderte Dreiklänge bei: »zwi-schen drei’n«, »wir Sol-da-« (g-e-cis), »schie-ren das« (b-g-e), dazu ein übermäßiger Dreiklang ab- und aufwärts: »und vie-ren, da« (cis-a-f-a-cis), und schließlich Tritoni: »das« und »-lein« (e-b) und darauf folgend besonders schwierig einen Halbton höher »und« (f-h). Gänzlich musikalisch verändert hat sich auch das »Tralila«, das bei Mahler nach der Wunderhorn-Vorlage50
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Hilmar-Voit, S. 232.
»Trallali, trallaley, trallalera« heißt: Aus dem aufsteigenden Dreiklang im Volkslied ist bei Mahler in den ersten beiden Strophen eine Stufenfolge abwärts geworden, in der dritten und vierten Strophe ein Halbtonschritt aufwärts, der Gezwungenheit und Leid zum Ausdruck bringt. Mit Halbtonschritten wird das »Trallali« auch in der sechsten bis achten Strophe versehen. Obwohl Mahler gewisse Merkmale des Volksliedes beibehält, wird bei ihm alles Unbeschwerte, Unkomplizierte und Positive seiner Gestalt entschieden problematisiert und negiert.

Die dialogische Anlage der Strophen hat Mahler musikalisch konterkariert. Während die Reihenfolge der erzählenden Personen in den ersten fünf Strophen A-A-B-A-A lautet, gestaltet Mahler die Strophen nach dem Formschema A-A’-B-B’-C. Weder wird also dem Wechsel der Erzählperspektive von Strophe drei nach vier entsprochen noch der Beibehaltung der Erzählposition in den Strophen vier und


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