- 76 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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sie ähnlich, daß Mahler meine, es sei das bedeutendste von allen seinen Liedern. Dann gibt sie Mahlers Aussage zu dem Lied wieder:

»Dem Rhythmus dieses Liedes mußte nichts weniger als der 1. Satz meiner III. [Symphonie] als eine Studie vorausgehen; ich hätte es ohne das nicht machen können, und in gewissem Sinne enthält dieses kurze Lied alles von mir, wie ein Baumquerschnitt die ganze Entwicklung und das ganze Leben des Baumes aufweist. Du wirst staunen über den schauerlich mystischen Inhalt des Gedichts, das nur in Umrissen gezeichnet, dabei aber von der größten Anschaulichkeit ist. Wie der Trommler an der Spitze seiner Truppe Liebchens Haus und Gäßlein verläßt, wie er fällt und sie vom Feinde geschlagen werden, wie er die Kameraden anruft, sie möchten ihn verwundet doch nicht liegenlassen, ihn aber keiner erhört, und die Freunde sinken, ›gemäht wie das Gras‹, bis er, ›um sich nicht zu verlieren‹, aufsteht und die Trommel fortwährend rührend, die Seinen zum Siege führt; dann rücken sie ins Gäßchen und es stehen ihre Gebeine wie Leichensteine vor Liebchens Fenster, daß sie sie sehen kann.«35

35
Zit. im Kritischen Bericht von R. Hilmar-Voit zur Gesamtausgabe der Orchesterfassungen der Wunderhorn-Lieder (= Gustav Mahler, Sämtliche Werke, Kritische Gesamtausgabe Bd. XIV, Teilband 2, Wien 1998), S. 345.

In einem Brief vom 10. Juli 1899 an die gemeinsame Freundin Nina Spiegler schreibt Natalie Bauer-Lechner:

»Er hat es sich schon seit Jahren als das bedeutendste der [Wunderhorn-] Sammlung zum Komponieren angemerkt, konnte aber seiner nicht Herr werden und hat inzwischen immer wieder andere gemacht. Du wirst es den unscheinbaren Umrissen des Gedichtes nicht ansehen, was für Gustav darin liegt, und also wirklich darin verborgen ruht. Er hat es uns an seinem Geburtstage vorgespielt und da erschien es uns, wie klein auch dem Umfang nach, von so riesenhafter Größe und Bedeutung, daß ich begriff, was er mir davon sagte: Es mußten damit es entstehen konnte, seine drei Symphonien vorausgehen. Auch verglich er es mit dem Querschnitt eines Baumes, der in der einen kleinen Fläche die Spuren seines ganzen Lebens trägt. – Wie aus dem innersten Wesen der Dinge daraus zu uns spricht und wie die Mystik einer anderen Welt sich darin aufs Tiefste erschütternd vor uns auftut, das müßtest Du hören, um es glauben zu können. Dabei ist die Composition, trotz ihres nie dagewesenen Inhalts und Reichtums und der höchsten künstlerischen Vollendung in allen ihren Mitteln, doch so schlicht und einfach – volkstümlich – wie das die höchste Meisterschaft nur vermag; und durch diese Gegensätzlichkeit wirkt es ohne gleichen. Da würde Dir auch begreiflich werden, was ihr so oft beanstandet habt, daß sich G. immer nur diese oft kaum mehr als angedeuteten Texte der Volkslieder erwählt: weil er da erst ganze Welten herausholen konnte, wo ihm die vollendeteren Texte, ja der vollendetste, doch nur eine Beschränkung gewesen wäre.«36

36
Zit. im Kritischen Bericht von R. Hilmar-Voit und Th. Hampson zur Gesamtausgabe der Klavierfassungen der Wunderhorn-Lieder (= Gustav Mahler, Sämtliche Werke, Kritische Gesamtausgabe, Band XIII, Teilband 2b: Fünfzehn Lieder, Humoresken und Balladen aus »Des Knaben Wunderhorn« Wien 1993), S. 179.

Zunächst geben beide Quellen die außerordentliche Bedeutung wieder, die Mahler dem Lied zumißt. Er stellt es nicht nur als Summa compositionis, sondern als


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