- 75 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Haus«. Die achte Strophe berichtet, daß morgens die Gebeine »in Reih und Glied wie Leichensteine« stehen; die Trommel stehe voran, daß sie – das Schätzel – ihn – den trommelnden Soldaten – sehen kann.

Der Text dürfte bei der Erstveröffentlichung 1805 noch nicht sehr alt gewesen sein. Das Marschieren in Reih’ und Glied, wie es im Text heißt, ist erst im 18. Jahrhundert in den Armeen eingeführt worden. Es handelt sich also keineswegs um ein Landsknechtslied aus dem 17. Jahrhundert. Erk-Böhme gibt 1817 und 1806 als Jahreszahlen für zwei Melodiefassungen des Liedes an.30

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Erk, Ludwig; Böhme, F. M.: Deutscher Liederhort. 3 Bde. Leipzig 1893/94 [= Erk-Böhme] Bd. III, Nr. 1338.
Die Zeit der napoleonischen Kriege läßt sich auch an der Grundhaltung des Textes festmachen. Frank Pietzker beschreibt den Mentalitätswandel, wie er sich im Soldatenlied um 1800 manifestiert:

»Der Typ des abenteuernden Landsknechts, der sein ganzes Leben dem Waffendienst unter wechselnder Fahne widmet und dieses standesgemäß und unter Gleichgesinnten zu beenden bereit ist, wird seltener. Die zu den Heeren gepreßten und gelegentlich sogar nach Übersee verkauften Landeskinder haben den Krieg mit Sicherheit anders erlebt als die noch von Grimmelshausen beschriebenen Musketiere. [...] Mit fortschreitender Inhumanität eines immer perfekter werdenden Massenmords auf den Schlachtfeldern werden die Sujets und ihre Verarbeitung in den Soldatenliedern wirklichkeitsferner.«31

31
Frank Pietzcker, Die Todesvorstellung im Landsknechts- und Soldatenlied, in: Zeitschrift für Musikpädagogik 1988, Heft 44, S. 5 und 9.

Zwei Hauptkomponenten dieses Textes stellen zentrale Topoi in Revelge dar: Der gepreßte Soldat zum einen und die Wirklichkeitsferne der Todesverarbeitung zum anderen.

Mahler hat den Wunderhorntext fast identisch übernommen; von Textänderungen zu sprechen, wäre eine Übertreibung, wie Hilmar-Voit schreibt32

32
Hilmar-Voit, S. 236.
. Eine einzige Zeile – »Ihr Lumpenfeind seyd da« – ist von Mahler ausgelassen worden. Das ist insofern nicht ganz unwichtig als dadurch die nachfolgende Zeile – »Ihr tretet mir zu nah« – eine andere Bedeutung erhält. Im Wunderhorntext sind es die Feinde, die dem Soldaten zu nahe treten, bei Mahler die eigenen Kameraden.33
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Sowohl Vill (S. 104) als auch Schmierer (S. 152) versuchen eine Interpretation dieser Auslassung: Susanne Vill, Vermittlungsformen verbalisierter und musikalischer Inhalte in der Musik Gustav Mahlers, Tutzing 1979; Elisabeth Schmierer, Die Orchesterlieder Gustav Mahlers, Kassel 1991.
Mahlers Änderungen beschränken sich darüber hinaus auf Ergänzung von einzelnen Worten, die das Verständnis aber nicht verändern, und auf Wiederholungen von Worten oder Zeilen, die im Verlauf der acht Strophen zunehmen.34
34
Vgl. die Gegenüberstellung bei Hilmar-Voit S. 232–235 bzw. schon bei Vill S. 98/99.

Mahlers eigene Sichtweise des Textes ist durch Natalie Bauer-Lechner in zwei Quellen überliefert. Sie war Mahlers Begleiterin im Sommerurlaub in Bad Aussee, wo Revelge Anfang Juli 1899 entstand. Nur ein Teil, und keineswegs das Wichtigste der aufgezeichneten Erinnerungen an diese Tage ist veröffentlicht worden. Dazu gehört Mahlers Einschätzung, daß es sich bei diesem Lied um seine größte Komposition dieser Art handele. Im unveröffentlichten Teil ihrer Erinnerungen erwähnt


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