- 70 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Ludwig Karpath vom 2. März 1905 bekundet Mahler sein Anrecht, als Begründer der Wunderhorn-Mode zu gelten. Nur seien seine Werke noch unaufgeführt gewesen, während seine Nachahmer »bereits sehr berühmt und gesungen« seien10
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Mahler, Briefe, S. 299.
, womit wohl u.a. Streicher gemeint sein dürfte. Den gleichen Gedankengang, Mahler sei der eigentliche Begründer der Wunderhorn-Vertonungen und gelte nun, da andere damit schon Erfolge errungen hätten, als deren Nachahmer, führt auch Richard Specht in seinem Mahler-Aufsatz von 1908 aus.11
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Richard Specht, Gustav Mahler, in: Die Musik 7 (1907/08), S. 156.
Streicher scheint in jener Zeit tatsächlich eine ernsthafte Konkurrenz zu Mahler als Wunderhorn-Vertoner gewesen zu sein. Streicher gehörte dem sogenannten Ansorge-Verein an, der im Herbst 1903 zur Förderung Neuer Musik gegründet worden war. Ein Jahr später entstand der Verein schaffender Tonkünstler, dessen Ziele ganz ähnlich ausgerichtet waren und zu dessen Ehrenpräsident Mahler berufen wurde. Am 12. Januar 1905 fand im Ansorge-Verein ein Streicher-Abend statt, bei dem neun Wunderhorn-Lieder und sechs weitere zur Aufführung kamen. Am 29. Januar 1905 veranstaltete der Ansorge-Verein einen »Literarischen Abend ›Des Knaben Wunderhorn‹« – im Jahre 1905 wurde der hundertste Jahrestag des Erscheinens der Sammlung gefeiert. Der Abend begann mit einem Vortrag über »Ursprung und Bedeutung von Des Knaben Wunderhorn« von Dr. Eugenie Schwarzwald, gefolgt von Text-Lesungen. Anschließend sang Marie Gutheil-Schoder Wunderhorn-Lieder von Mendelssohn, Brahms, Schumann, Mahler, Strauss und Streicher; letzterer war mit drei Liedern am häufigsten vertreten. Dieser Abend fand im Bösendorfer-Saal statt. Im Kleinen Saal des Musikvereins veranstaltete der Verein schaffender Tonkünstler am gleichen 29. Januar 1905 einen Mahler-Liederabend, bei dem viele Wunderhorn-Lieder zur Aufführung gelangten, davon die noch ungedruckten Revelge und Der Tamboursg’sell und weitere als Uraufführung. Die Vermutung, daß der Streicher-Abend zuerst organisiert war und der Mahler-Abend sich als Konkurrenz dazu etablierte, rührt daher, daß bei der Wiederholung des Mahler-Abends am 3. Februar Marie Gutheil-Schoder einen Teil des Programms bestritt, die am 29. Januar vom Ansorge-Verein engagiert war.

Mahlers Bevorzugung der Wunderhorn-Texte ist insofern besonders, als die meisten Liederkomponisten traditionell in einem ganz großen Ausmaß bei ihrer Textauswahl auf die aktuelle Lyrik der Zeit zugriffen. Schubert vertonte Goethe, Schiller, Körner, Klopstock, Schlegel, Tieck, Novalis, Rellstab, Heine und viele andere seiner Zeitgenossen. Schumann vertonte Heine und Eichendorff, Hoffmann von Fallersleben, Rückert und Mörike und andere Dichter seiner Zeit. Auch in den Liedern von Richard Strauss findet man zeitgenössische Lyrik in auffälliger Fülle, zum Beispiel Liliencron, Dehmel, Kerr, Bierbaum, Henckell bis hin zu Hesse und Weinheber. Erst in seiner späteren Phase der Liedkomposition ab 1918 vertonte Strauss vermehrt Dichtungen des zurückliegenden 19. Jahrhunderts.12

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Schlötterer, S. 19ff.


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