- 71 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (70)Nächste Seite (72) Letzte Seite (410)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Dieser Gleichzeitigkeit des Entstehens von Lyrik und ihrer Komposition steht eine entschiedene Ungleichzeitigkeit bei Pfitzner und Max Reger gegenüber. Den Grund dafür sieht Hans Mayer bei Pfitzner in einer romantischen Regression und politischen Reaktion, bei Reger in literarischer Unbildung.13
13
Hans Mayer, Gustav Mahler und die Literatur, in: Ders., Ein Denkmal für Johannes Brahms. Versuche über Literatur und Musik, Frankfurt/M. 1983, S. 146–161, hier S. 147. Im Wiederabdruck dieses Artikels im Musik-Konzepte Sonderband Gustav Mahler heißt es »Umbildung« statt »Unbildung« (1989, S. 151).
Auch bei Hugo Wolf zeigt sich eine Ungleichzeitigkeit im Rückgriff auf Goethe und zahlreiche Dichter des mittleren 19. Jahrhunderts, vor allem Eduard Mörike. Die Vertonungen der Übersetzungen des Zeitgenossen Paul Heyse (1830–1914) im Italienischen und Spanischen Liederbuch – hier gemeinsam mit Emanuel Geibel – seien, so Hans Mayer, »nur scheinbar: diese Dichtung ist epigonal und exotisierend. Sie schaut nach rückwärts und in die Ferne.«14
14
Ebd.

Die kompositorische Auseinandersetzung mit der aktuellen Lyrik der Zeit bleibt auch bei Mahler – im Gegensatz zur im 19. Jahrhundert weithin geltenden Gleichzeitigkeit – völlig aus. Nach dem letzten Wunderhorn-Lied, dem Tamboursg’sell von 1901, vertonte Mahler eine Reihe von Rückert-Texten. Die Lyrik des 1866 gestorbenen Rückert kann nach der Jahrhundertwende nicht mehr als aktuell verstanden werden. Zeitgenössischer Lyrik folgen allein die beiden frühen Lieder Frühlingsmorgen und Erinnerung von Leander, einem Pseudonym des Chirurgen Richard von Volkmann (1930–1989), und das Lied O Mensch! Gib Acht! innerhalb der Dritten Symphonie, das Nietzsches Zarathustra entnommen ist. Mahler gab, wie Alma berichtet, nicht nur der zeitgenössischen Dichtung, sondern jeder Art der Vertonung von Lyrik eine Absage: »Das sei so, als wenn ein Meister eine Marmorstatue gemeißelt habe und irgendein Maler wollte Farbe darauf setzen.«15

15
Alma Mahler, Erinnerungen, S. 121.
Seine zu dieser Äußerung im Widerspruch stehenden Kompositionen von Rückert-Gedichten begründete er gegenüber Anton Webern: »Nach des Knaben Wunderhorn konnte ich nur mehr Rückert machen – das ist Lyrik aus erster Hand, alles andere ist Lyrik aus zweiter Hand.«16
16
Hans und Rosaleen Moldenhauer, Anton von Webern. Chronik seines Lebens und Werkes, Zürich 1980, S. 65.

Mahler also suchte in seinen Liedern, viel stärker als seine Zeitgenossen und die Liedkomponisten vor ihm, den Ausdruck seiner eigenen Welt.17

17
So auch Hilmar-Voit, S. 31.
Diese an den Wunderhorn-Liedern festgemachte Erkenntnis zeigt sich auch in den fünf Rückert-Liedern. Gerade die Lieder Ich bin der Welt abhanden gekommen, Blicke mir nicht in die Lieder oder auch Liebst du um Schönheit werden nicht ohne Berechtigung in der Mahler-Literatur als innere Bekenntnisse angesehen.18
18
Mahlers Motivation zur Vertonung der »Kindertotenlieder« bildet besondere Probleme. Auf die Wiedergabe der Hypothesen und die Diskussion derselben sei hier verzichtet.
Zum erstgenannten Lied bekannte er gegenüber Natalie Bauer-Lechner, das sei er selbst, zum zweitgenannten bemerkt sie, es sei schon textlich für Mahler so charakteristisch, als hätte er es selbst gedichtet.19
19
Bauer-Lechner, Erinnerungen, S. 194.
Und über das drittgenannte berichtet Alma, Mahler habe es als Liebeslied für sie selbst komponiert.20
20
Alma Mahler, Erinnerungen, S. 87.


Erste Seite (i) Vorherige Seite (70)Nächste Seite (72) Letzte Seite (410)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 71 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang