- 69 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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in einem Kunstwerk zum Ausdruck zu bringen. Die Texte zu diesem Kunstwerk suchte und fand er in der Wunderhorn-Sammlung.

Der Rückgriff auf diese alte Sammlung von Volkslied-Texten – wie immer sie auch von Arnim und Brentano bearbeitet worden sind, steht hier nicht zur Diskussion – unterstreicht den ganz anderen Weg, den Mahler in seinem Liedschaffen ging. Natürlich haben auch andere Komponisten Wunderhorn-Texte vertont. Zu dieser Sammlung griffen schon Mendelssohn Bartholdy, Weber, Loewe, Schumann und Brahms, ebenso Richard Strauss, Max Reger, Alexander von Zemlinsky, Hugo Wolf und sogar Arnold Schönberg, und später noch Armin Knab und Kurt Hessenberg und viele andere. Aber hier handelt es sich gewissermaßen um Randerscheinungen. Während bei Mahler knapp die Hälfte seiner Lieder auf Wunderhorn-Texte zurückgehen – 24 von 50 (= 48%) – ist die Zahl bei Richard Strauss verschwindend gering – 4 von 1956

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Nach der Textausgabe von Reinhold Schlötterer, Die Texte der Lieder von Richard Strauss, Pfaffenhofen 1988.
(= 2%)! Ein Name verdient an dieser Stelle Erwähnung: der Wiener Komponist Theodor Streicher (1874–1940). Er veröffentlichte 1898 Sechs Lieder aus »Des Knaben Wunderhorn«7
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Sie waren zunächst, wie auch die dreißig Lieder, bei Lauterbach & Kuhn erschienen und gingen dann an Breitkopf & Härtel über. Ein Papierstreifen, der den alten Verlagsnamen überklebt, trägt die Inschrift »Verlag von Breitkopf & Härtel 1898«. R. B. Wursten datiert sie in seiner Streicher-Dissertation (1980) auf Oktober 1904, ebenso in seinem Streicher-Artikel im New Grove (1980) auf 1904, im 1904-1908.
und 1903 weitere und 1903 weitere dreißig8
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Hoffmeister-Verzeichnis 1898–1903.
. Drei dieser 36 Lieder befassen sich mit dem Soldaten. Das Abendlied handelt von einem Soldaten, der, von seiner Liebsten verlassen, es mit seinem Gegenspieler aufnehmen will, um seiner Schande zu entgehen. Das Weinschröterlied ist ein »Spottlied auf einen desertierten Soldaten«, wie die Fußnote lautet; der Deserteur erscheint also genau im umgekehrten Licht wie bei Mahler, wo sein bitteres Schicksal im Mittelpunkt steht. Das dritte Soldatenlied Streichers ist Der Schildwache Nachtlied, also genau der Text, den auch Mahler vertonte. Weder die große Anzahl von Soldatenliedern noch die einseitige Hervorkehrung ihres Schicksals, wie es bei Mahler anzutreffen ist, findet sich also bei Streicher. Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Neben dem Weinschröterlied tragen auch die beiden anderen Soldatenlieder – als einzige in der Sammlung – Fußnoten. Beim Abendlied wird darauf hingewiesen, daß es sich um das »Lied eines eifersüchtigen Soldaten handelt«, bei Der Schildwache Nachtlied lautet die Anmerkung: »Empfindungen und Liebesvisionen eines hinterlassenen und zuletzt von der ›Rund‹ aus seinen Träumen aufgeschreckten einsamen Postens.« In beiden Fällen wird also das Liebessujet hier gegenüber der Soldatenthematik in den Vordergrund gekehrt. Neben Der Schildwache Nachtlied gibt es eine weitere Parallelvertonung zu Mahler: Um die Kinder still und artig zu machen, bei Mahler mit dem leicht variierten Titel. Alma berichtet von einem Besuch Streichers bei den Mahlers Anfang 1905, also um die Zeit von Mahlers Wiener Liederabend, an dem viele der Wunderhorn-Lieder aufgeführt wurden. Auch Schönberg, Zemlinsky und Klaus Pringsheim waren zugegen. Streicher habe am späteren Abend aus seinen Wunderhorn-Liedern vorgespielt; Mahler hätten diese Lieder gelangweilt, er habe mit keinem Worte reagiert und damit eine peinliche Situation ausgelöst, übermittelt Alma in einer süffisanten Schilderung.9
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Alma, Mahler, Erinnerungen, S. 107f. Der Wahrheitsgehalt dieser Schilderung wird von Richard Bruce Wursten in seiner Streicher-Dissertation angezweifelt. (R. B. Wursten, The Life and Music of Theodor Streicher: Hugo Wolf redivivus? Univ. of Wisconsin-Madison 1980, S. 88–92).
In einem Brief an

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