- 64 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Schuberts30
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Bauer-Lechner, Erinnerungen, S. 158.
, ganz ähnlich wie vorher über diejenigen von Brahms, bei Decsey fordert er »Durchführung des Themas und thematische Arbeit« für die Liedkomposition31
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Ernst Decsey, Stunden mit Mahler, in: Die Musik 10 (1911), S. 144; zur Bedeutung dieser Aussage vgl. die Ausführungen zu Revelge, S. 80.
. Auf der gleichen Seite erinnert sich Decsey: »Als ich einige harmonische Feinheiten heraushob und dann meinte, in dem Liede ›Der Schildwache Nachtlied‹ sei am Schluß ein merkwürdiges Weiter- und Umbilden der Dominante und dadurch eine immer erhöhte Spannung erreicht, wollte er es nicht wahrhaben. ›Ach, was! Dominante! Nehmen Sie die Sachen so naiv wie sie gemeint sind.‹ Auch als ihn einmal (viel später) Julius v. Weis auf den Septensprung bei der Stelle Tu septiformis munere in der Achten Symphonie und auf die zurückkehrende Haupttonart D-dur bei der Stelle ›Er kehrt zurück‹ aufmerksam machte, wußte er es tatsächlich nicht und lachte über den Eifer des Freundes.«32
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Decsey, S. 144f.

Auch diese Erinnerung bestätigt die Distanz Mahlers zu formanalytischer Sprache. Es ist sicher, daß er der Festlegung seiner Musik auf eine rein musikalische Ausrichtung ohne jeglichen Inhaltsbezug die Zustimmung versagt hätte. Sie widerspricht seinen oben zusammengetragenen Äußerungen. Wenn Mahler sich über seine Musik mitteilte, verschwanden solche formanalytischen Begriffe. Sie gehörten nicht der Sprache an, in der er über seine Musik redete. Wer ihn so interpretiert läuft Gefahr, ihn zu sehr von Schönberg, seiner Schule und seinen Apologeten aus zu sehen, denen die verbale Auseinandersetzung um musikalische Theoretica in ganz anderer Weise Bedürfnis war. Vielleicht ist hier ein Vergleich mit der Architektur zulässig: Wenn man über ein Bauwerk spricht, über seine Schönheit, über die Wirkung von Details, Farbzusammenstellung und Gesamtplan, dann redet man nicht über statische Fachtermini, über die Art der unter dem Putz verborgenen Mauersteine, über die Tragefunktion der Zwischenstreben und über das Mischungsverhältnis des Zements. Alle diese Aspekte verdienen hohe Beachtung, wenn das Bauwerk gelingen und tragfähig sein soll, aber zu seinem ästhetischen Rang tragen sie – jedenfalls für Mahler – nicht entscheidend bei.

Zusammenfassend läßt sich Mahlers ästhetische Position auf folgende Punkte fixieren:

  • Jedes seiner Werke hat ein inneres Programm, das sich aber nur zum Teil verbal mitteilen läßt.
  • Die Mitteilung des Programms setzt den ästhetischen Rang herab. Es läßt sich von musikalischen Menschen bis zu einem gewissen Grade hörend erschließen.
  • Dieses innere Programm steht in engstem Kontakt mit Mahlers Leben und seinen Erlebnissen und Erfahrungen.
  • Auch dem Schöpfer selbst ist es unmöglich, dieses Programm bis ins letzte zu erschließen.


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