- 56 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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»Die Justi hat Dir nicht gesagt, daß dieses Programm nur für einen oberflächlicheren und unbehülflichen Menschen (Du weißt ja, wen) verfaßt ist, und nur manches Äußerliche – reine Oberfläche der Sache gibt – wie schließlich jedes Programm zu einem musikalischen Kunstwerk. Nun gar erst dieses Werk, das so einheitlich geschlossen und verbunden ist, und das man ebenso wenig erklären kann wie die Welt. – Ich bin nämlich überzeugt, wenn Gott aufgefordert würde, sein Programm zur ›Welt‹, die er geschaffen, zu geben, könnte er es ebenso wenig. – Höchstens gäbe es dann so eine ›Offenbarung‹, die vom Wesen Gottes und des Lebens so viel weiß, wie mein Elaborat vom meiner C-moll [Sinfonie]. Ja, geradezu führt dieß – wie alle Offenbarungs-Religionen – zum direkten Mißverständnis, Unverständnis, zur Verplattung, Vergröberung und schließlich zur Entstellung bis zur Unkenntlichkeit des Werkes und vornehmlich seines Schöpfers. – Ich habe jetzt mit Strauss in Berlin sehr ernst gesprochen und ihm seine Sackgasse zeigen wollen. Er konnte mir aber leider nicht ganz folgen.«8
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Briefe Mahlers an Alma, S. 102.

Er setzt sich hier also deutlich von der Berlioz-Strauss-Richtung der Programmusik ab und bringt zum Ausdruck, daß das Programm nur die Oberfläche eines Werkes beschreiben kann und niemals in tiefere Schichten vorzudringen in der Lage ist. Das Programm kann dem Verstehen des Werkes mehr schaden als nutzen.

Der Gedanke, daß ihm, dem Schöpfer, das Mitgeteilte eines Werkes nicht restlos klar sei, findet sich in weiteren Briefen. So in einem undatierten Brief an Richard Batka9

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Mahler, Briefe, S. 145.
, der schon im ersten Kapitel herangezogen worden ist. In einem Brief an Max Marschalk vom 26. März 1896 heißt es: »Ich weiß für mich, daß ich, solang ich mein Erlebnis in Worten zusammenfassen kann, gewiß keine Musik hierüber machen würde. Mein Bedürfnis, mich musikalisch – symphonisch auszusprechen, beginnt erst da, wo die dunkeln Empfindungen walten, an der Pforte, die in die ›andere Welt‹ hineinführt; die Welt, in der die Dinge nicht mehr durch Zeit und Ort auseinanderfallen. –
Ebenso, wie ich es als Plattheit empfinde, zu einem Programm Musik zu erfinden, so sehe ich es als unbefriedigend und unfruchtbar an, zu einem Musikwerk ein Programm geben zu wollen. Daran ändert die Tatsache nichts, daß die Veranlassung zu einem musikalischen Gebilde gewiß ein Erlebnis des Autors ist, also ein Tatsächliches, welches doch immerhin konkret genug wäre, um in Worte gekleidet werden zu können.«10
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Mahler, Briefe, S. 149. Die Kursive in dieser Ausgabe weisen auf Unterstreichungen Mahlers hin.

Mahler postuliert hier, daß es gerade die Musik ist, die die Möglichkeit eröffnet, dunkle Empfindungen, die in Worten nicht mitteilbar sind, zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig sagt er, daß die Veranlassung zu solcher Musik – aber nur diese, nicht das gesamte Produkt – von konkreten Erlebnissen des Komponisten ausgeht. Dieser Gedanke wiederum, daß Mahlers Musik direkt mit seinem Leben und seinen Erlebnissen in Verbindung steht, findet sich ebenso in weiteren Briefen. Gegenüber Arthur Seidl äußert er am 17. Februar 1897: »nur wenn ich erlebe, ›tondichte‹ ich


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