- 55 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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seiner Werke wurde er vom Publikum in der Regel gefeiert, von der Kritik aber mehrheitlich abgelehnt. Das wollte er ändern, indem er mit den Kritikern Kontakt aufnahm und seine Musikauffassung erklärte. Je nach der ästhetischen Position des Adressaten mußte das in anderer Weise erfolgen, um sich den jeweiligen Auffassungen anzunähern, diesen aber jedenfalls nicht diametral entgegenzutreten. Eine Brüskierung des Adressaten hätte genau das Gegenteil von dem bewirkt, was beabsichtigt worden war. So kann nicht ein einzelnes Briefzitat Mahlers als Beleg herangezogen werden, sondern nur eine Anzahl von Äußerungen, die an unterschiedliche Personen gerichtet sind. Die prägnanteste Aussage findet sich in einem Brief an Max Kalbeck, den die Neuausgabe der Briefe schlüssig auf den 20. November 1900 datiert. Darin heißt es: »Es gibt, von Beethoven angefangen keine moderne Musik, die nicht ihr inneres Programm hat. – Aber keine Musik ist etwas wert, von der man dem Hörer zuerst berichten muß, was darin erlebt ist – respektive was er zu erleben hat. – Und so nochmals: pereat! jedes Programm! – Man muß eben Ohren und ein Herz mitbringen und – nicht zuletzt – sich willig dem Rhapsoden hingeben. Ein Rest Mysterium bleibt immer – selbst für den Schöpfer!«6
6
Mahler, Briefe S. 254.

Mahler postuliert hier zunächst, daß die gesamte Musik des 19. Jahrhunderts ein inneres Programm besitze. Das ist eine klare Absage an die Idee der absoluten Musik und an die Hanslick-Ästhetik, bemerkenswerter Weise geäußert gegenüber dem großen Brahms-Biographen. Desgleichen wendet er sich gegen die Mitteilung des Programms, also gegen die Programmusik-Schule, wie sie von Berlioz, Liszt und Strauss vertreten wurde. Mahler bezeichnet den Komponisten, der einem inneren Programm folgt, zuallererst also sich selbst, als Rhapsoden. Er verwendet das Bild des griechischen Sängers, der epische Dichtungen vortrug, um zu versichern, daß der Komponist analog dazu mit seinem Werk etwas erzählen will. Dieses Erzählte sei dem Hörer auch ohne niedergeschriebenes und lesbares Programm nachvollziehbar, wenn er gewisse Voraussetzungen dafür mitbringe. Er bezeichnet das als Ohren und Herz, womit Musikalität und Empfindung gemeint sein dürften. Schließlich räumt er ein, daß auch der Schöpfer, er also selbst, dieses in Musik Mitgeteilte nicht restlos entschlüsseln könne. Mit der Bemerkung »nochmals: pereat« nimmt er Bezug auf seine Münchener Erklärung vom 20. Oktober 1900, in der er mit dem gleichen Wort seine Abkehr von der Mitteilung von Programmen verkündet hatte. Diese Geschichte war von Ludwig Schiedermair in dessen im gleichen Jahr erschienenen kleinen Mahler-Biographie berichtet worden.7

7
Ludwig Schiedermair, Gustav Mahler, Leipzig o.J. [1900], S. 13f.
Entweder war Kalbeck also bei dieser Münchener Erklärung zugegen oder hat davon zumindest erfahren, oder das Schiedermair-Büchlein war zur Zeit dieses Briefes bereits erschienen.

Gegenüber Alma macht Mahler nochmals seine Position zur Richtung der Programmusik eines Richard Strauss deutlich. Er hatte nach der Münchener Erklärung zu seiner Zweiten Symphonie ein Programm verfaßt, das aber ausdrücklich »nur für einen naiven und nicht allzu tief gehenden Menschen berechnet« war, wie er an Justi schrieb – gemeint war damit König Albert von Sachsen. Im Brief an Alma vom 18. Dezember 1901 heißt es zu diesem Programm:


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