- 5 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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»In der Sechsten von Mahler, vor allem in diesem Hamagedon von Finale, steckt eine fürchterliche Vorausahnung von Treblinka, Auschwitz [...]«17
17
Zit. bei Bernt W. Wessling: Gustav Mahler, Ein prophetisches Leben, Hamburg 1974, S. 227.

Im französischen Sprachraum hat die hier thematisierte Interpretation einen Widerhall bei Jean Matter in seinem 1974 erschienenen Buch Connaissance de Mahler gefunden. Sein erstes Mahler-Buch von 195918

18
Jean Matter, Mahler. Le Démoniaque, Lausanne 1959.
hatte diesen Gedankengang noch nicht aufgewiesen. Seine Sichtweise der Sechsten zeigt Nähe zu den Gedanken Adornos: die Vorahnung des Ersten Weltkrieges, die Ähnlichkeit mit dem Expressionismus, der Bezug zu Revelge, die Marschdominanz im ersten Satz, die formale Stringenz des Finales, die Fixierung Mahlers zwischen absoluter und Programmusik. Matter stellt die interessante Frage, warum Paul Bekker, dessen Mahler-Buch kurz nach dem Ersten Weltkrieg erschien, nicht erkannte, daß die Sechste – mit ihrer »obsession d’un rhythme de marche qui va dominer la symphonie entière« – diesen Krieg auf die schrecklichste Weise antizipiere.19
19
Jean Matter, Connaissance de Mahler. Documents, analyses et synthèses, Lausanne 1974, S. 208–221
Auf diese Frage wird noch zurückzukommen sein.

Des weiteren findet sich der erste Satz von Mahlers Sechster als musikalische Illustrierung des Ersten Weltkrieges im Fernsehfilm. In der Geschichtsreihe Wir Deutschen20

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Folge »1890–1918«, NDR 1992.
wird diese Musik parallel zu Bildern gespielt, die Zeitungsausschnitte vom Beginn des Krieges zeigen. Diese Klänge rufen zu den sachlichen Bildern den Eindruck des kollektiven, zwanghaften Marschierens hervor, wobei jegliche Glorifizierung ausbleibt. Das unverkennbar Negative dieses Eindrucks wird besonders deutlich, wenn man die gleichen Bilder von Preußischen Armeemärschen begleiten läßt.

Mahlers Vision eines Untergangs im Strudel des Antisemitismus und Militarismus, wie er in der Rezeption erscheint, sollte sich nicht nur weltgeschichtlich, sondern auch persönlich auswirken. Nicht mehr er selbst wurde davon betroffen, aber eine unmittelbare Nachfahrin: Seine Nichte Alma Rosé, gemeinsame Tochter der Ehe seiner Schwester Justine mit dem Konzertmeister des Wiener Hofopernorchesters Arnold Rosé, starb 1944 als Dirigentin des Frauenorchesters von Auschwitz.21

21
Anita Lasker-Wallfisch: Ihr sollt die Wahrheit haben. Die Cellistin von Auschwitz. Erinnerungen, Bonn 1997; Richard Newman mit Karen Kirtley: Alma Rosé. Wien 1906 – Auschwitz 1944, Bonn 2003.

Falls die Position allgemeine Gültigkeit erlangte, daß Mahlers Musik, insonderheit seine Sechste Symphonie und einige Wunderhorn-Lieder, sich mit dem Militarismus und dem agressiven Antisemitismus seiner Zeit auseinandersetzt, diese Phänomene in ihrer Negativität zum Gehalt seiner Musik macht, dann birgt die Musik darin eine deutlich zukunftsweisende Komponente in sich. Müßte man dann den Anfang einer politischen, staatskritischen Musik nicht erst in den zwanziger und dreißiger Jahren bei Eisler und Weill, später Karl Amadeus Hartmann und anderen sehen, sondern Mahler als Wegweiser dieser Ausrichtung von Musik erkennen, die als Phänomen das gesamte 20. Jahrhundert musikalisch prägt? Mahler also als der Beginn einer Kette, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg bei Luigi Nono, Hans Werner Henze und Isang Yun fortsetzt, zu der auch Benjamin Britten und


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