Notiz der 2. Auflage seines Mahler-Buches von 1963 behauptet er über das Bisherige hinausgehend, »daß zwischen diesem Werk [der Sechsten Symphonie] und dem Lied ›Rewelge‹14
Somit wäre also sowohl das 1899 entstandene Lied als auch die 1903/04 komponierte Symphonie zu verstehen als Vorahnung des Ersten Weltkrieges, dessen Vorboten dem wachen Zeitgenossen der Jahrhundertwende nicht verborgen bleiben mochten. Eine Kritik am Militarismus der Zeit also, dem das Deutsche Reich und die k. u. k. österreich-ungarische Monarchie gleichermaßen fröhnten. Die drei renommiertesten Mahler-Forscher der fünfziger und sechziger Jahre, Ratz, Redlich und Adorno, gelangen also in der Inbeziehungsetzung der Musik Mahlers zu den politischen Katastrophen des Jahrhunderts zu einer vergleichbaren Position. Und sie äußern dies an ganz zentraler Stelle: Ratz und Redlich in maßgeblichen Lexikon-Artikeln, Redlich in der Einleitung zur Studienpartitur und Adorno in seinem Buch, dessen Bedeutung für das Verständnis Mahlers kaum zu überschätzen ist. Die gleiche Interpretation findet sich bei Leonard Bernstein, der 1967 in einem Mahler-Artikel schrieb: »Die Zeitgenossen Mahlers [...] hörten endlose, brutale, fast manische Märsche, aber sie erkannten weder den Doppeladler noch das spätere Hakenkreuz auf den Uniformen der Marschierer.«16
Bernstein bezieht sich zwar nicht explizit auf die Sechste, aber es drängt sich auf, daß sie hier an erster Stelle gemeint ist. Bernstein geht insofern einen Schritt über die Vorgenannten hinaus, als daß er das Mißverstehen Mahlers durch seine Zeitgenossen bewußt in seine Gedankenführung mit einschließt. Er äußerte den Gedanken in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu seiner ersten Einspielung der Sechsten, die am 2. und 6. Mai 1967 stattfand. Für Max Brod ist ein Verständnis der Sechsten belegt, das sie in Zusammenhang mit der Judenvernichtung stellt, obwohl Redlich3 bei Brod eine Gegenposition zu der eigenen ausgemacht hat:
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